Noir – historische Fälle Somerton Man

str_crime Von Graeme Wood
Die Leiche des Unbekannten, überlagert von Notizen
Kein Name, keine Papiere, die Etiketten seiner Kleidung säuberlich abgetrennt. Niemand sollte herausfinden, wer der Tote vom Strand einmal war. Dann kam ein Mann, der bereit war, über Grenzen zu gehen. | Teil 8 der Reihe "Noir": Historische Fälle, gelesen von Jens Harzer

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Der Mann, den die australische Polizei am frühen Morgen des 1. Dezember 1948 am Somerton Beach fand, sah nicht aus wie einer, der sich zum Schlafen in den Sand legt. Er war Mitte 40 und trug einen feinen Zweireiher. Die Streifen auf seiner Krawatte verliefen schräg, von rechts oben nach links unten. Alle Etiketten waren sorgfältig aus seiner Kleidung entfernt. Die Lederschuhe saßen wie angegossen an seinen Füßen, deren Zehen – so beschrieb es später ein Zeuge – keilförmig zusammengedrückt waren. Er musste seit mindestens fünf Stunden tot sein.

Niemand, der ins Leichenschauhaus bestellt wurde, konnte den Mann identifizieren. Der Gerichtsmediziner fand in seiner Anzugjacke eine Schachtel mit einigen Zigaretten der Marke „Kensitas“, dazu zwei Kämme und Fahrkarten, die belegten, dass er tags zuvor gut 15 Kilometer mit dem Bus vom Hauptbahnhof in Adelaide nach Somerton gefahren war. Seine außergewöhnlich kräftigen Wadenmuskeln mit Ver­dickungen unterhalb der Knie seien typisch für Tänzer oder für Menschen, die High Heels tragen, sagte der Gerichtsmediziner. Auch das Gebiss des Toten war sonderbar, denn es fehlten die äußeren Schneidezähne – die scharfen Eckzähne wuchsen direkt neben den inneren Schneidezähnen. Im Au­topsiebericht stand, dass die Leber des Toten mit Blut gefüllt und die Milz vergrößert gewesen sei. Auch wenn die Todesursache offiziell ungeklärt blieb, vermutete der Pathologe, dass Gift im Spiel war. Ein Experte wies auf zwei leicht erhältliche und nicht nachweisbare toxische Substanzen hin, die zum Tod des Mannes hätten führen können. Aus der Leiche vom Strand war ein Mordfall geworden.

Erschienen in Crime 12/2017. Dieser Text erschien erstmals im „California Sunday Magazine“ im Juni 2015. Aus dem Englischen von Annette Streck