Tuğçe-Prozess Beleidigungen hörte jeder, die Ohrfeige sah niemand

  • von Sonja Jordans
Tag drei im sogenannten Tuğçe-Prozess vor dem Landgericht in Darmstadt. Was zwei Freunde des Angeklagten erzählen, kommt Prozessbeobachtern bekannt vor - bloß der Blickwinkel ist ein anderer.

Die Aussage des Tages fällt um kurz nach vier am Nachmittag: "Friedlich war keiner, keiner war ruhig, keiner war still." Dieser Satz, gesprochen von einem Freund des Angeklagten Sanel M., kommt der Wahrheit wohl am Nächsten. Nur so lässt sich offenkundig knapp zusammenfassen, was vergangenen November auf dem Parkplatz eines Offenbacher Schnellrestaurants geschehen war, als die 23 Jahre alte Tugce Albayrak zu Tode kam. Sanel M., 18, angeklagt wegen Körperverletzung mit Todesfolge, soll der jungen Frau im Streit eine Ohrfeige verpasst haben, infolge derer sie stürzte und schließlich starb.

Die Frage, wie es zu dem Streit kam, steht auch am dritten Prozesstag vor dem Landgericht Darmstadt im Mittelpunkt des Interesses. Die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wer wen zuerst wie beleidigt hat, gleicht der Suche nach der berühmt-berüchtigten Nadel im Heuhaufen. Fraglich ist jedoch, ob sie je gefunden wird. Denn je mehr Aussagen im Prozess gehört werden, desto unklarer wird, was Erinnerungen an tatsächlich Erlebtes, Hörensagen, oder vielleicht sogar bloße Behauptungen sind. Widersprüche mehren sich. Beinahe gebetsmühlenartig muss der Vorsitzende Richter immer wieder einen Satz wiederholen: "Bitte erzählen Sie nur das, was Sie an dem Abend tatsächlich gesehen haben." Klingt einfach, ist es aber offensichtlich nicht. Bislang war es nahezu allen Zeugen schwer gefallen, nur von Erlebtem zu berichten - den Freundinnen von Tuğçe, die am zweiten Prozesstag sowie am Vormittag des dritten Tages ausgesagt haben ebenso wie den beiden Freunden des Angeklagten, die am Nachmittag vor Gericht erschienen sind.

Keiner will Streit befeuert haben

Und noch etwas fällt auf: Keine der beiden Gruppen will den Streit, den es zwischen den Mädchen um Tuğçe und den Jungen um Sanel zweifelsfrei gegeben hat, befeuert haben. Die Mädchen hatten ausgesagt, die Jungengruppe habe mit Beleidigungen und Ausdrücken wie "Nutten" und ähnlichem begonnen. Die Zeugen, die zu Sanels Freunden gezählt werden, sagen am Nachmittag jedoch das Gegenteil aus - wenn auch mit nahezu gleichen Worten. "Da wurde die Familie beleidigt von A bis Z", sagt ein 19 Jahre alter Abiturient, bei dem der Angeklagte am Tatabend im Auto mitgefahren war, über die Mädchen aus. Genau jene Worte hatte auch schon eine Freundin Tuğçes benutzt, als sie über den Streit und die dabei gefallenen Beschimpfungen der Jungen berichtet hatte: "Da wurden die Mütter beleidigt von A bis Z".

Die Freunde des Angeklagten berichten, Sanel und ein Kumpel - beide ordentlich angeheitert - hätten an jenem Abend zunächst eine Freundin Tuğçes "angeflirtet", sich von dieser aber eine Abfuhr geholt, wobei bereits eine Beleidigung seitens des Mädchens gefallen sei. Später hätten Sanel und sein Freund dann auf der Mädchentoilette zwei andere Mädchen angesprochen, die sich dort aufgehalten hatten. "Aber da war alles ruhig, es gab keinen Stress", behauptet ein Zeuge. Erst als Tuğçe gekommen wäre, sei die Stimmung gekippt. "Sie sagte sofort, 'verpisst euch, ich will aufs Klo'", sagt der Zeuge. Daraufhin habe man sich kurz beleidigt, bis der Zeuge Sanel und dessen Kumpel "die Treppe hinaufbugsiert" habe.

Erneute Beleidigungen aus Tuğçes Gruppe?

Diese Aussage ist neu. Bislang hatte es stets geheißen, zwei Sicherheitsmänner hätten Sanel und seinen Freund im Schwitzkasten die Treppe hinaufgebracht und aus dem Restaurant geworfen. "Nein, ich habe die beiden raufgebracht", bleibt der Zeuge beharrlich.

Draußen vor dem Schnellrestaurant, als die Jungen hätten gehen wollen, seien dann von Seiten der Gruppe um Tuğçe erneut Beleidigungen gerufen worden. Auch hätten einige der Mädchen nach den Jungen gespuckt, so der Zeuge am Montagnachmittag. Erst aufgrund all dieser Beleidigungen sei Sanel M. "aggressiv" geworden. Dass dieser Tuğçe geohrfeigt hatte, habe der Zeuge allerdings erst auf der Heimfahrt im Auto erfahren. "Sanel erzählte, sie habe 'Hurensohn' gesagt und er habe ihr eine Ohrfeige gegeben." Dass die Studentin dabei zu Boden gegangen war, will er nicht gesehen haben.

Richter misstraut Aussage

Der Vorsitzende und seine Beisitzer runzeln bisweilen die Stirn. Offenkundig sind ihnen manche der Aussagen neu. Immer wieder muss die Kammer nachhaken, dem 19-Jährigen vorhalten, dass er bei der Polizei mitunter anderes erzählt oder einiges weggelassen hat. "Ich hab da ein bisschen Bedenken bei Ihrer Aussage", bemerkt der Vorsitzende abschließend.

Der zweite aus dem Bekanntenkreis des Angeklagten habe zwar Tuğçe am Boden liegen sehen, von dem Schlag allerdings will auch er nichts mitbekommen haben. Dafür sagt er aus, die Beleidigungen der Mädchen deutlich vernommen zu haben. Mehr oder weniger. Denn eigentlich lässt der junge Mann zunächst nur den Richter sprechen. Weil er sich mehr schlecht als recht erinnert, was in der Tatnacht geschah, muss der Vorsitzende Richter immer wieder Teile seiner polizeiliche Aussage verlesen. "Ja, genau", sagt der Zeuge dazu nur, um sich dann noch mehr in seinen Aussagen zu verstricken. "Es blickt keiner mehr durch, was Sie da sagen", bringt der Vorsitzende Richter leicht genervt hervor. Der Zeuge scheint verwundert. Schließlich platzt dem ansonsten geduldigen Richter der Kragen: "Wir können auch noch zehn Mal anfangen, wenn es sein muss." Doch außer, seine polizeilichen Aussagen mit "ja, genau" zu bestätigen, kann der Zeuge nicht mehr viel beitragen. Der Prozess wird am Freitag mit weiteren Freunden des Angeklagten fortgesetzt.

PRODUKTE & TIPPS