Folgt man dem Angeklagten, dann war jener 14. Juli 2003 ein ganz normaler Tag im Leben eines DaimlerChrysler- Versuchsingenieurs: Er steht früh auf, tankt um 5.21 Uhr in Sindelfingen, fährt zur Teststrecke nach Papenburg. Er ist ein wenig erkältet, und beim Einchecken ins Testgelände gibt es ein Computerproblem. Ansonsten: Keine besonderen Vorkommnisse.
Die 21- jährige Mutter und ihre zweijährige Tochter waren sofort tot
Folgt man der Staatsanwaltschaft, dann hat der 34-Jährige, der seit Montag vor dem Amtsgericht Karlsruhe steht, zwei Menschenleben auf dem Gewissen. Gegen 6.00 Uhr morgens soll er mit 220 bis 250 Stundenkilometern auf einen 80 bis 100 Stundenkilometer langsameren Kleinwagen aufgefahren sein - so dicht, dass die Fahrerin vor Schreck die Kontrolle über ihr Auto verlor und in einen Wald raste. Die 21- jährige Mutter und ihre zweijährige Tochter waren sofort tot.
Oberstaatsanwalt Matthias Marx stützt sich auf die Aussagen mehrerer Zeugen, die hinter dem Wagen der Frau fuhren. Ein dunkler Mercedes fuhr dicht auf den Kleinwagen auf, mit einem Tempo, das selbst Schnellfahrer staunen lässt. "Ich wurde flott und zügig überholt", sagt der Betreiber eines Limousinenservice, der selbst mit mindestens 220 Sachen unterwegs war - das passiere ihm nicht oft.
Seine Kollegen nennen ihn "Turbo-Rolf"
Und tatsächlich war der nun Angeklagte zu jener Zeit auf der Autobahn A 5 unterwegs - mit einem dunklen Mercedes, und wahrscheinlich schnell. Richterin Brigitte Hecking hat ausgerechnet, dass der 34-jährige Ingenieur - seine eigenen Zeitangaben zu Grunde gelegt - die 283 Kilometer von der Unfallstelle bei Karlsruhe bis zur Raststätte Siegerland mit einem Schnitt von rund 158 Stundenkilometern zurückgelegt haben muss. Seine Kollegen nennen ihn "Turbo-Rolf" und rechnen ihn der "Linksblinkerfraktion" zu.
Doch was haben die Zeugen wirklich gesehen? War es der 500-PS- starke S-Klasse-Mercedes, den der nun Angeklagte zur Teststrecke brachte, oder war es vielleicht doch eine E-Klasse? Da mag sich keiner festlegen. Und die Gutachten werden dem Gericht möglicherweise auch nicht weiterhelfen: Danach könnte es auch ein zwar gefährlicher, aber halbwegs normaler Überholvorgang gewesen sein. Denn ob die nachfolgenden Autos aus 200 bis 300 Meter Entfernung den Abstand zwischen dem Mercedes und dem Wagen der Frau wirklich richtig eingeschätzt haben, erscheint zweifelhaft. Und den Unfall dürfte der "Raser" nur bemerkt haben, wenn er in den Rückspiegel geschaut hat.
"Das Autobahnfahren ist kein Fahren, das ist Krieg"
Das Amtsgericht wird also mühsam Indiz an Indiz reihen müssen, um herauszufinden, ob der schmale, korrekt gescheitelte Mann auf der Anklagebank jener rücksichtslose Autobahnraser ist, nach dem die Polizei im Sommer 2003 in einer wochenlangen Suche gefahndet hatte. Leicht nach vorne gebeugt, schildert der 34-Jährige minutiös seine Fahrt nach Papenburg. Am Unfallort, den er etwa 10 Minuten nach dem Unglück passiert habe, will er ein Blaulicht gesehen haben. Und er spricht von "zäh fließendem Verkehr" an jenem Morgen - was es unwahrscheinlicher macht, dass er es in einer halben Stunde von Sindelfingen bis zum Unfallort geschafft haben könnte. Die meisten Zeugen dagegen sagen, es sei wenig los gewesen auf der A 5.
Jenseits der Aufklärung des Sachverhalts wird der Fall schon jetzt zum Lehrstück über den Alltag auf deutschen Autobahnen. Wer, wie die Mutter, auf der linken Spur immerhin an die 150 Stundenkilometer fährt, muss jederzeit mit der hoch motorisierten 200-Plus-Fraktion rechnen. Deswegen hatte der Fall schon im Vorfeld ungeheure Emotionen geweckt - was im Gerichtssaal kaum zu spüren war: Die Mutter des Opfers folgte schweigend der Verhandlung. Nur einmal murmelte ein Zeuge, als er nochmals das Geschehen schilderte: "Das erlebt man jeden Tag. Das Autobahnfahren ist kein Fahren, das ist Krieg."
Wolfgang Janisch, DPA