Bagatellverfahren Kleinkriege vor dem Kadi

Immer mehr Bagatellen halten die deutsche Justiz auf Trab. Das Recht auf das Recht kostet den Staat Millionensummen.

Sie streiten um Cent-Beträge, Wattstärken von Haustürlampen, um Knallerbsenstrauch und Maschendrahtzaun: Die Deutschen ziehen gerade bei Kleinigkeiten immer öfter vor Gericht. Die Justizbehörden registrieren einen Anstieg vor allem von Bagatellverfahren mit Streitwerten unter 300 Euro - ausgerechnet in Zeiten knapper Kassen, denn die Justiz muss dabei immer öfter auch Prozesskostenhilfe gewähren.

Zahl der Bagatellverfahren stark gestiegen

Bundesweit stieg die Zahl der Bagatellverfahren nach Angaben des Bundesjustizministeriums von rund 230.000 im Jahr 2002 auf knapp 257.000 im Jahr darauf, ein Anstieg um rund elf Prozent. Auch in Bayern nahmen die Bagatellverfahren laut Ministerium in München überdurchschnittlich zu, die Zahl kletterte binnen vier Jahren bis 2004 von gut 21.000 Verfahren auf mehr als 29.000.

Ein Grund für die steigenden Verfahrenszahlen ist offenbar die schlechte wirtschaftliche Lage und die damit schwindende Zahlungsmoral. "Immer mehr Menschen bleiben anderen etwas schuldig", erläutert der Sprecher des bayerischen Justizministeriums, Raik Werner in München. "Wenn ich kein Geld habe, zahle ich meine Rechnung nicht." Somit werde der Betrag eingeklagt.

Experten sehen als Motiv auch Arbeitslosigkeit und Frust. "In dem Moment, in dem alle immer weniger haben, wird der Verteilungskampf immer heftiger", sagt der Vizepräsident des Berufsverbandes Deutscher Psychologen, Uwe Wetter. "Und wenn man sich entrechtet, vom Staat verlassen und vom System benachteiligt fühlt, kann es schon sein, dass man diese Ohnmacht zu kompensieren versucht." Mit einem Sieg vor Gericht könne der Betroffene der Familie und der Öffentlichkeit zeigen, dass er sich doch erfolgreich durchsetzen kann, erläutert Wetter, der auch als Gerichtsgutachter tätig ist.

Nicht nur zerstrittene Nachbarn und verkrachte Verwandte, sondern auch Behörden und Institutionen mischen in dem Kleinkrieg mit. Vor kurzem klagte ein Münchner Krankenhaus bei einem Patienten einen Betrag von 89 Cent ein. Die Klinik bekam Recht und damit ihr Geld, jedoch kostete das Verfahren die Staatskasse mehrere hundert Euro, wie der Präsident des Amtsgerichts, Gerhard Zierl, schätzt. Nur 75 Euro trugen samt Gerichtskosten die Streithähne.

Streit um "jeden Cent"

"Wir beobachten, dass auch größere Firmen und Institutionen um jeden Cent gerichtlich streiten", sagt Zierl. "Es ist die Frage, wie lange sich der Staat das leisten kann, dass um solche Kleinigkeiten mit so hohem Aufwand gestritten wird." Das Grundgesetz garantiert jedoch mit dem Justizgewährungsanspruch den Zugang zu einem Gericht auch in geringfügigsten Fällen. Zudem sinke mit den Rechtsschutzversicherungen die Hemmschwelle für einen Rechtsstreit.

Das Recht auf das Recht kostet Millionensummen. Bayernweit kletterten allein die im Rahmen von Prozesskostenhilfe gewährten Rechtsanwaltsvergütungen von 2000 bis 2004 um rund ein Drittel auf knapp 51 Millionen Euro. Dabei schlagen die Arbeitslosenzahlen zusätzlich zu Buche, denn wer bedürftig ist, bekommt die Hilfe.

Die Möglichkeit zur Schlichtung nutzen nur wenige. Bei Streitwerten unter 750 Euro muss es zwar vor einem Prozess einen Schlichtungsversuch geben. Doch diese Regelung werde gezielt umgangen, weiß Zierl. "Man stellt oft fest: Es geht nicht immer ums Geld, sondern ums Prinzip: Man möchte ein Urteil von einem Gericht." Bei jahrelangen nachbarlichen Streitigkeiten bringe ein Urteil oft keine Lösung, sondern verschärfe die Lage nur. Denn der Unterlegene suche umso mehr nach einer Möglichkeit zur Revanche - der nächste Rechtsstreit ist vorprogrammiert.

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Sabine Dobel/DPA

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