Zwei junge Menschen starben, fünf wurden verletzt und etliche mussten die Messerattacke in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg am Mittwoch mit ansehen. Der 33-jährige Ibrahim A. wurde Minuten nach den tödlichen Angriffen auf dem Bahnsteig von Brokstedt (Kreis Steinburg) festgenommen. Am Donnerstag erließ ein Richter am Haftbefehl gegen staatenlosen Palästinenser. Der Vorwurf lautet auf zweifachen heimtückischen Mord und vierfachen versuchten Totschlag.
Ibrahim A. sitzt nicht das erste Mal in U-Haft. Schon kurz nach der Tat im Regionalzug wurde bekannt: Er wurde erst sechs Tage zuvor, am 19. Januar, aus der Untersuchungshaftabteilung der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Billwerder entlassen – obwohl über seinen Fall noch nicht abschließend entschieden war. Warum kam A. trotzdem frei?
Mutmaßlicher Brokstedt-Messerstecher war in U-Haft
Der damals 32-jährige wurde Anfang des vergangenen Jahres in Hamburg festgenommen. Er soll am 18. Januar 2022 unter Alkohol- und Drogeneinfluss vor einer Diakonie-Aufenthaltsstelle für Obdachlose einen Mann geschlagen und mit einem Klappmesser (Klingenlänge 10,5 Zentimeter) schwer verletzt und anschließend in einem Aldi-Markt Lebensmittel gestohlen haben. Am 22. Januar 2022 erließ das Amtsgericht Hamburg Haftbefehl gegen den zu dieser Zeit Wohnungslosen. Er kam nach Billwerder.
Dort blieb A. bis zu seinem Prozess am Amtsgericht Hamburg-St.Georg am 18. August 2022. Das Gericht verurteilte Ibrahim A. wegen gefährlicher Körperverletzung und Diebstahls zu einem Jahr und einer Woche Haft – ohne Bewährung. Das Urteil liegt dem stern vor. Darin heißt es unter anderem, es fehle dem Verurteilten eine "günstige Sozialprognose". "Das Gericht sieht die Wahrscheinlichkeit künftigen straffreien Verhaltens nämlich nicht größer an als die Wahrscheinlichkeit neuer Straftaten." Auch verfüge A. über "kein tragfähiges Netz" in Deutschland. Für Ibrahim A. ging es nach dem Schuldspruch zurück nach Billwerder.
In eine reguläre Justizvollzugsanstalt wurde er nicht verlegt, denn kurz nach dem Urteil des Amtsgerichtes ging er in Berufung in die nächste Instanz zum Landgericht. Die Verurteilung zu einem Jahr und einer Woche Gefängnis wurde damit nicht rechtskräftig – doch frei kam A. trotzdem nicht.
Einen Termin für den Berufungsprozess gab es zwar noch nicht, dennoch blieb A. in U-Haft. Sie ist ausdrücklich keine Strafe, sondern dient dazu, das Gerichtsverfahren sicherzustellen, indem zum Beispiel verhindert wird, dass Beschuldigte untertauchen oder Beweise vernichten können. Ein Richter muss die Untersuchungshaft verhängen.
Sechs Tage nach Haftentlassung bestieg Ibrahim A. den Regionalzug
Normalerweise ist die U-Haft maximal ein halbes Jahr lang, nur in Ausnahmefällen auch länger. Am 19. Januar 2023 saß Ibrahim A. – ohne rechtskräftiges Urteil – insgesamt 363 Tage in der Untersuchungshaftanstalt Billwerder ein. Dazu kommt: Im Berufungsprozess wäre ein höheres Urteil als die Amtsgericht verhängten 372 Tage laut Strafprozessordnung nicht möglich. Dort heißt es: "Das Urteil darf in Art und Höhe der Rechtsfolgen der Tat nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden (...)."
Am 363. Tag der Untersuchungshaft hob das Hamburger Landgericht den Haftbefehl auf – Ibrahim A. war ein freier Mann, sechs Tage später bestieg er in Kiel den Regionalexpress in Richtung Hamburg.
Die Dauer seiner U-Haft drohte die Strafe des Amtsgerichts in wenigen Tagen zu überschreiten. Eine längere Haft wäre daher "unverhältnismäßig" gewesen, erläuterte Gerichtssprecher Kai Wantzen in mehreren Interviews. Die Verhältnismäßigkeit gehört zu den zentralen Prinzipien des Rechtsstaats. Da Ibrahim A. nicht aus der Strafhaft, sondern aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, kamen Auflagen für ihn nicht infrage.
Die Taten von Hamburg waren nicht die ersten Verbrechen, die A. nach seiner Ankunft in Deutschland an Heiligabend 2014 hierzulande beging. Er war bereits vorbestraft, auch wegen gefährlicher Körperverletzung. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte bei ihrem Besuch in Brokstedt, es müsse geklärt werden, "warum Menschen, die so gewalttätig sind, noch hier in Deutschland sind".
Quellen: Gerichtspressestelle Hamburg, Strafprozessordnung, Nachrichtenagentur DPA