Am Tag danach ist nichts mehr so wie es einmal war. In Brokstedt, einer 2000-Einwohner-Gemeinde im schleswig-holsteinischen Niemandsland lebt man normalerweise ruhig, im Grünen. Es ist ein Ort, wie es ihn tausendfach in Deutschland gibt. Im Ortskern ein Edeka, ein Gasthof, eine Apotheke. Die Sparkasse hat auf eine SB-Filiale umgestellt. Es gibt Sportplätze, ein Freibad, ein bisschen Handwerk und etwas mehr Landwirtschaft, viele Einzelhäuser. Und einen Bahnhof.
Stündlich fahren hier Züge nach Hamburg im Süden und nach Kiel im Norden. Viele in Brokstedt arbeiten in einer der beiden Großstädten. Regionalexpress 11223 fährt am Mittwochnachmittag um 14.54 Uhr planmäßig auf Gleis 2 ein. Der rote Doppelstockzug bringt den Tod und das Entsetzen nach Brokstedt.
Der Horror von Brokstedt ist um 15 Uhr vorbei
Am Tag danach blickt das ganze Land auf die Gemeinde im Kreis Steinburg. Reporter der Fernsehstationen stehen am Bahnhof und tragen hinaus, was hier geschehen ist. Was bekannt ist. Und was nicht bekannt ist.

Der Regionalzug verlässt den Kieler Hauptbahnhof um 14.25 Uhr in Richtung Hamburg. Um 14.45 Uhr fährt er in Neumünster ab. Spätestens dann ist auch Ibrahim A. an Bord, zusammen mit rund 120 weiteren Menschen. Knapp 14 Kilometer sind es von dort bis nach Brokstedt. Irgendwo auf dieser Strecke greift Ibrahim A. zum Messer, sticht offenbar vollkommen wahllos auf Mitreisende ein. In den Waggons sei Panik ausgebrochen, schildert ein Fahrgast später den "Kieler Nachrichten". "Ich hatte Todesangst", sagt ein anderer der "Bild"-Zeitung. Es müssen sich tumultartige Szenen abgespielt haben. "Ein sehr großes Chaos", stellt eine Polizeisprecherin nüchtern fest. Während viele Reisende den Notruf wählen, versuchen andere laut Zeugenaussagen, den Angreifer in Schach zu halten. Mit Koffern, Reisetaschen und allem, was sie greifen können. Es ist eine Heldengeschichte. Sie hätten "wohl den Täter davon abgehalten, Schlimmeres zu begehen", sagt Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) am Abend. Nach quälend langen Minuten kommt der Zug im Bahnhof von Brokstedt zum Stehen. Ein paar Mutige halten Ibrahim A. fest, bis endlich die ersten Polizisten eintreffen. Der Horror von Regionalexpress 11223 ist kurz nach 15 Uhr vorbei.
Zwei junge Menschen werden aus dem Leben gerissen
Ein Großaufgebot von Polizei und Rettungskräften eilt nach Brokstedt. Die Helfer versorgen die Verletzten, zwei lebensgefährlich, drei weitere schwer, und müssen feststellen: Zwei Menschen haben den Horror nicht überlebt, sie sind an schweren Stichverletzungen gestorben. Am Tag danach steht fest: Sie waren erst 17 und 19 Jahre alt. Eine Jugendliche und ihr zwei Jahre älterer Bekannter, beide aus Schleswig-Holstein, wurden aus dem Leben gerissen.

Nachdem die Überlebenden versorgt sind, der verletzte Angreifer in ein Krankenhaus gebracht wurde, übernehmen die Ermittler Bahnhof und Zug. In weißen Schutzanzügen sichern sie Spuren. Gelbe Schilder mit schwarzen Ziffern stehen zur Markierung auf dem Bahnsteig, Dutzende Zeugen werden am Bahnhof und in einer nahegelegenen Gaststätte befragt. Eine Bäckerei schenkt heiße Getränke aus. "Eine Selbstverständlichkeit", sagt die Verkäuferin einem Reporter der Nachrichtenagentur DPA.
"Das ist ein furchtbarer Tag"
Die Nachricht von der tödlichen Messerattacke im Regionalzug erreicht schnell die 40 Kilometer entfernte Landeshauptstadt Kiel. Im Landtag an der Förde geht es am ersten Sitzungstag des Jahres unter anderem um den Haushaltsplan. Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) wird über die Tat informiert. "Schleswig-Holstein trauert – das ist ein furchtbarer Tag", sagt er, während seine Innenministerin nach Brokstedt fährt. "Für mich steht fest, dass sich die entsetzliche Tat gegen jede Menschlichkeit richtet", sagt sie. Am Donnerstag ist im ganzen Land Trauerbeflaggung angeordnet und der Landtag gedenkt der Toten.

Brokstedt ist zu einem weiteren Symbolort für Gewalttaten geworden, die Deutschland regelmäßig aufschrecken: Messerangriffe auf vollkommen arglose Menschen. Zuletzt hatte Anfang Dezember ein 27-Jähriger in Illerkirchberg (Baden-Württemberg) zwei Jugendliche auf deren Schulweg unvermittelt mit einem Messer angegriffen und eine von ihnen getötet. Im Juni 2021 hatte ein Mann in der Altstadt von Würzburg drei Frauen erstochen und weitere schwer verletzt. Brokstedt, Illerkirchberg, Würzburg – drei Fälle von vielen, die sich zwar ähneln, aber dennoch unterscheiden.
Hintergrund für die Attacke vollkommen unklar
Während beim Anschlag von Würzburg auch ein islamistischer Hintergrund im Raum stand, das Gericht den Angreifer letztlich aber wegen einer psychischen Erkrankung in eine Psychiatrie einwies, tappen die Ermittler zu einem Motiv in Illerkirchberg noch im Dunkeln. Im Fall der tödlichen Attacke von Brokstedt hat die Staatsanwaltschaft keinen Hinweis auf einen terroristischen Hintergrund, auch zu einer psychischen Erkrankung von Ibrahim A. ist von offizieller Seite nichts bekannt.
Ein Mädchen wird ermordet, ein Ort trauert – schmerzende Eindrücke aus Illerkirchberg

Und doch haben die drei und andere Fälle der Vergangenheit eines gemeinsam: Sie wurden von Männern mit Fluchtgeschichte und mutmaßlich Gewalterfahrungen begangen, die bereits zuvor polizeibekannt waren. Dies führt regelmäßig zu aufgeheizten Diskussionen über Zuwanderungspolitik.
Das ist im Brokstedter Fall nicht anders. Ibrahim A., 33 Jahre alt, kam übereinstimmenden Medienberichten (u.a. "Spiegel", "Bild"-Zeitung) zufolge 2014 als Geflüchteter nach Deutschland. Der staatenlose Palästinenser erhielt demnach 2017 subsidiären Schutz. Dieser wird laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Menschen gewährt, denen zwar weder Flüchtlingsschutz noch Asyl zustehen, aber denen "in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht und sie den Schutz ihres Herkunftslands nicht in Anspruch nehmen können oder wegen der Bedrohung nicht in Anspruch nehmen wollen".

Bei der Integration von Ibrahim A. lief in der Folge offenbar einiges schief. Zuletzt soll er keinen festen Wohnsitz gehabt, dafür aber schon etliche Male mit dem Gesetz in Konflikt gestanden haben. Es gab demnach auch unter anderem Ermittlungen wegen Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigung, Ladendiebstahls und sexueller Nötigung. Ein offenbar erstes Urteil zu einer Gefängnisstrafe fiel laut "Spiegel" im vergangenen Jahr wegen eines lebensgefährlichen Messerangriffs im Januar, es ist jedoch noch nicht rechtskräftig. Daher saß A. bis zum 19. Januar 2023 in Hamburg in Untersuchungshaft, ehe eine Richterin ihn freiließ. Nur sechs Tage später besteigt er den Regionalexpress von Hamburg nach Kiel.
Ibrahim A. soll vor Haftrichter kommen
Die Debatte über den Umgang mit Menschen, die sich nicht an die hier geltenden Regeln halten, ist da. Als einer der ersten meldet sich am Mittwochabend Grünen-Co-Chef Omid Nouripour bei "Markus Lanz" im ZDF zu Wort. Er sagt: "Natürlich müssen wir über Abschiebungen sprechen." Allerdings: Einen staatenlosen Schutzberechtigten, der noch nicht rechtskräftig verurteilt ist, abzuschieben, dürfte im Rechtsstaat ein schwieriges Unterfangen sein. Es warten keine einfachen Diskussionen – und auch keine einfachen Lösungen.

Die Ermittler in Schleswig-Holstein setzen derweil alles daran, die Tat von Brokstedt aufzuklären. Denn eine wichtige Frage ist weiterhin nicht beantwortet: Warum das alles? Ibrahim A. ist inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen und soll im Verlauf des Donnerstags vor den Haftrichter kommen. Am Nachmittag soll es auf einer Pressekonferenz der Behörden weitere Informationen zu dem tödlichen Messerangriff im Regionalexpress geben.
Der rote Doppelstockzug wird noch am Mittwochabend nach Neumünster in ein Werk der Deutschen Bahn gefahren. Erst dort werden die Leichen der beiden jungen Todesopfer aus den Waggons getragen. Auf dem Bahnsteig rückt die Freiwillige Feuerwehr Brokstedt an. Mit Wasser aus ihren Schläuchen und Schrubbern entfernen sie die sichtbaren Überreste vom Boden. In einem Wartehäuschen flackert einsam eine Kerze.

Am Tag danach fahren vom Bahnhof wieder stündlich Züge nach Hamburg und nach Kiel. Kaum etwas erinnert an das, was sich vor nicht einmal 24 Stunden abgespielt hat – und doch ist nichts mehr, wie es einmal war in Brokstedt, das nun jeder kennt.
Die Polizei sucht weiterhin Zeugen der Tat und bittet sie, sich telefonisch unter der (04821) 6022002 zu melden. Auch ein Hinweisportal für den Upload von Audio-, Video- oder Fotodateien wurde freigeschaltet: https://sh.hinweisportal.de/
Hinweis der Redaktion: Nach der Pressekonferenz der Behörden in Kiel mussten einige Angaben im Artikel den neuen Erkenntnissen angepasst werden (u.a. der Name des Festgenommenen, das Alter eines Todesopfers und die Zahl der Verletzten).
Quellen: Polizeidirektion Itzehoe (1), Polizeidirektion Itzehoe (2), Polizeidirektion Itzehoe (3), Polizeidirektion Itzehoe (4), Nahverkehrsverbund Schleswig-Holstein, "Kieler Nachrichten" (kostenpflichtiger Inhalt), "Spiegel"(kostenpflichtiger Inhalt), "Bild"-Zeitung(kostenpflichtiger Inhalt), Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, "Markus Lanz", ntv, Nachrichtenagenturen DPA und AFP