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Ermittlungen gegen die Hells Angels Wie ein falscher Zeuge die Polizei täuschte

Eine Razzia, 60 Verdächtige, 200 Ermittlungsverfahren und kein Täter: Als die Polizei 2012 gegen die Hells Angels vorgeht, ist die Bilanz ernüchternd - weil sie auf einen windigen Kronzeugen setzt.
Von Kuno Kruse

Es war eine der größten Razzien aller Zeiten. Spezialkräfte der Polizei stürmten im Mai 2012 rund 90 Wohnungen, Clubs und Bordelle in Norddeutschland, die Antiterrorgruppe GSG9 seilte sich vom Hubschrauber auf das Grundstück des Hannoveraner Rockerpräsidenten Frank Hanebuth ab, erschoss den Hund und stand vermummt, die Waffe im Anschlag, im Kinderzimmer. 1200 Polizeibeamte und viele Journalisten waren bei dieser Aktion im Einsatz gegen die Hells Angels.

Tag für Tag verfolgte die alarmierte Öffentlichkeit danach die Fortschritte bei der Demontage einer Lagerhalle in Kiel, unter der die Polizei die Leiche des ermordeten Türken Tekin Bicer suchte. Die Zeitungen berichteten über eine angebliche "Folterkammer" mitten in der Stadt. Fünf Rocker saßen, unter Mordverdacht, monatelang in Haft. 200 Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet, gegen Geschäftsleute und ihre Angestellten, gegen Prostituierte, Polizisten und Justizbeamte.

Und fast all das fußte auf den Aussagen eines einzigen Kronzeugen: Steffen R., ein einschlägig vorbestrafter Gewalttäter, der zwei Frauen in die Prostitution geprügelt und nun eine hohe Haftstrafe zu erwarten hatte. Gegen ein mildes Urteil und eine neue Identität aber, so hatte er der Polizei versprochen, würde er über die Hells Angels auspacken. Er sei einer ihrer Unterstützer und in ihre vielen Verbrechen bis hin zum Mord eingeweiht. Sein Kalkül ging auf.

Die Razzia liegt jetzt fast zwei Jahre zurück. Alle von Steffen R. des Mordes Beschuldigten sind inzwischen aus der Haft entlassen. Nun wurde das Verfahren gegen sie ganz offiziell eingestellt. Ein Rückblick:

Der wahrhaftige Zeuge

Es ist Ende Mai 2012, als Steffen R. von der Anklagebank des Kieler Landgerichts aus die alarmierte Öffentlichkeit über die mutmaßlichen Verbrechen der Rocker in Erstaunen versetzt. Das Gerichtsgebäude ist von Polizisten schwer bewacht, jeder Besucher ist beim Betreten durch einen Metalldetektor gegangen und abgetastet worden. Vor dem Eingang stehen Übertragungswagen des Fernsehens.

Eine schusssichere Weste verstärkt die wuchtige Statur des Angeklagten Steffen R., den seine Kumpane in Kiel den Kugelblitz nennen. Er zeigt sich reuig und ist der 28. Großen Strafkammer des Kieler Landgerichts beflissen zugeneigt.

Angeklagt wegen Menschenhandel, räuberischer Erpressung und schwerer Körperverletzung droht dem 41-Jähigen als notorischem Wiederholungstäter eine Haftstrafe von bis zu 10 Jahren, wenn es hart kommt mit anschließender Sicherheitsverwahrung.

Deshalb zeigt er sich jetzt brav. Nein, versichert er dem Gericht, streckt den Stiernacken und schüttelte seinen kleinen, runden Kopf, er habe niemals Geld von den Frauen genommen, vielleicht einmal ein Geschenk, wie eine Uhr. Nein, er hätte die beiden jungen Frauen auch nie gezwungen, im Club Aphrodite anzuschaffen. Er hätte ihnen nur einmal das Haus gezeigt, ihnen vielleicht ein wenig zugeredet.

So redet er sich nun heraus, der vermeintlich Geläuterte, auf dessen Wahrhaftigkeit das Landeskriminalamt setzt, der große Trumpf von Polizei und Justiz im Kampf gegen die Rocker.

Die beiden jungen Frauen und viele andere Zeugen hatten es den Richtern und Schöffen an den Tagen zuvor ganz anders geschildert. Sie hatten von Schlägen berichtet und von einer Pistole an der Schläfe. Die Frauen hatten gezittert, als sie im Saal 123 des Kieler Landgerichts nur wenige Schritte von dem brachialen Zuhälter entfernt gesessen hatten, seinen Blicken ausgesetzt.

Erzählen Sie mal von den Rockern!

An diesem Prozesstag aber geht es nicht um die Frauen, auch nicht um ihn, sondern um Personen, die gar nicht auf der Anklagebank sitzen, nicht einmal im Sitzungssaal sind. Es geht um die Hells Angels.

Es gebe keinen Deal mit dem Angeklagten, erklärt der Vorsitzende Richter Stephan Worpenberg laut und deutlich. Dann endlich fordert er Steffen R. auf: "Nun erzählen Sie uns einmal etwas über die Hells Angels." Es klingt wie eine Einladung. Und Steffen R. redet wie bestellt über Drogenhandel und Waffengeschäfte, über Zwangsprostituierte und deren Freikaufsummen, über Intrigen, Anschläge und Mordpläne.

Der Imperator und seine Legion 81

Steffen R. präsentiert sich als Insider, auf Augenhöhe mit den Präsidenten der Hells Angels in Kiel, Hamburg und Hannover. Er nennt sich selbst Präsident der Kieler "Legion 81". Die Zahl steht für den achten und ersten Buchstaben im Alphabet, den Initialen der Hells Angels.

Es ist eine dieser Gruppen, die sich an vielen Orten in Deutschland den Hells Angels als Unterstützer im Krieg gegen die Bandidos angeboten haben. Von den Rockern wenig geachtete Handlanger, die so am Ruf der Hells Angels teilhaben.

Von seinen Legionären ließ sich Steffen R. "der Imperator" nennen. Keiner von ihnen hatte Geld für ein Motorrad. Die "Legion 81" war aus einem Sozialprojekt für Haftentlassene hervorgegangen, die mit Entrümpelungen, Wohnungsauflösungen und einem Second-Hand-Shop eine Arbeit und neuen Halt finden sollten. Irgendwann fiel die öffentliche Unterstützung nur noch mager aus, ihr Laden "Sparfuchs" wurde eingespart, und die Männer versuchten ihren Kleider-Trödel nun privatwirtschaftlich zu führen.

Steffen R. hatte vorher im Gefängnis einen Kurden kennengelernt, der nach seiner Haftentlassung Anwärter bei den Kieler Hells Angels werden wollte. Die sollten dem Trödelladen mit den starken Kerlen einen Kredit geben, berichtet der Zeuge. Über diesen Kontakt lernte er auch andere Rocker kennen. So kannte er nicht nur die Namen, Lokale, die Orte, an denen sie sich trafen. Er war auf ihren Partys.

Räuberpistolen aus der Rockerwelt

Und so erzählt Steffen R. sehr szenisch vom angeblichen Geldstrafen-System der Rocker, vom ganzen Club als einem Franchise-System, bei dem für alles kassiert würde, von seinem Weg in die Legion ohne Rückkehr, von korrupten Polizisten und mit kostenlosem Sex vergüteten Justizbeamten, und zieht Richter und Zuschauer in eine bizarre Welt des Verbrechens.

Im Zentrum der Aussagen des Kronzeugen Steffen R. stand der Mord an dem Türken Tekin Bicer. Steffen R. will von den Rockern davon erfahren haben. Der Türke hätte Ärger mit den Hells Angels gehabt. Deshalb hätten ihn drei Rocker abgeholt und zu der Autowerkstatt gefahren, in der sie ihn gefoltert hätten. Am Ende hätten sie ihn mit einem Gnadenschuss erlöst. Der Sterbende hätte geröchelt wie ein Seehund.

Steffen R. nannte der Polizei auch das Versteck der Leiche. Sie liege unter dem Betonboden einer großen Lagerhalle für Tätowierbedarf, die der Frau eines Hells Angels gehöre. Steffen R.s Schilderungen bei der Polizei waren reich an Anekdoten. Da war der Leichengeruch, der an einem der Rocker haftet, die Angst des anderen Rockers vor seiner Ehefrau, sie sich von ihrem Rocker trennen würde, wenn sie erführe, dass er einen Toten unter ihrer Halle verstecke. Da waren die "drei Stufen" hinunter in den Folterkeller bei der Autowerkstatt, in dem früher schon einmal ein abtrünniger Tätowierer bestraft worden sei.

Alles nur vom Hörensagen

Ein leitender Beamter des Landeskriminalamtes bescheinigt dem Zeugen im Gerichtssaal eine Glaubwürdigkeit von "bis zu 100 Prozent". Er habe die Polizei bei ihren Ermittlungen deutlich weitergebracht. Kenner fragten sich auf dem Gerichtsflur, ob die Polizei wirklich so wenig über Rockerszene und ihre Strukturen wisse, dass sie alle Schilderungen für bare Münze nehme.

Es ist diese verblüffende Ungestörtheit bei seinem ausführlichen Vortrag vor dem Gericht, die Besucher damals irritiert: Niemand hakt ernsthaft nach. Weder der Richter, noch Beisitzer, und auch nicht die Staatsanwaltschaft. Einmal, in einer seiner seltenen Interventionen, will der anwesende Oberstaatsanwalt Alexander Ostrowski wissen, ob Steffen R. die Leiche selbst gesehen hätte. "Nein" sagt der. Ob er also alles von Hörensagen wisse? "Richtig", sagt Steffen R. Der Staatsanwalt ist damit seltsam zufrieden.

"Es ist bedauerlich, dass das Gericht dem angeblichen Zeugen einen riesigen Lautsprecher auf die Bühne stellt, aber seine Aussagen gar nicht überprüft," sagte damals Michael Gubitz, Professor für Strafrecht, der an diesem Tag als Zuschauer im Saal saß. Er übernahm die Verteidigung des Kieler Hells Angels Dirk R. Einer der Männer, gegen den das Verfahren jetzt eingestellt wurde.

Nun kann auch das Landeskriminalamt nur noch schwer bestreiten, dass die von Steffen R. so wunderbar ausgeschmückte Welt des Verbrechens wohl nur seine Fantasiewelt war.

Nach dem Prozess meldet sich ein Mithäftling von Steffen R. Er beansprucht das Urheberrecht für die Geschichte mit dem Röcheln des Sterbenden aus dem Folterkeller. Denn das hätte er sich in den langen Gesprächen in der gemeinsamen Haft für die Aussage von Steffen R. ausgedacht. Er sei es auch gewesen, der ihm geraten hätte, den Hannoveraner Rockerpräsidenten Frank Hanebuth als Drahtzieher mit zu beschuldigen, weil die Aussagen allein gegen Kieler Rocker vielleicht nicht ausreichen würden für ein richtig gutes Zeugenschutzprogramm.

Taucher in der Saale

Als die Kieler Polizei bei der Halle schweres Gerät auffahren ließ, saß in Sachsen-Anhalt ein Oberstaatsanwalt vor dem Fernsehapparat und sagte zu seiner Frau: "Das erinnert mich an eine Geschichte, die wir einmal hatten."

Oberstaatsanwalt Hans-Jürgen Neufang hatte in Naumburg auch einmal eine Leiche suchen lassen. Wochenlang waren die Taucher jeden Tag ins Wasser der Saale gestiegen, so erzählte der Staatsanwalt der Journalistin Anke Hunold vom NDR-Magazin Panorama. Auch Oberstaatsanwalt Neufang hatte damals einen Angeklagten vernommen, der sich durch seine Aussagen einen Strafnachlass erhofft hatte. Der Zeuge hieß ebenfalls Steffen R.

Lügen als Überlebensstrategie

Steffen R. ist das Kind alkoholkranker, gewalttätiger und übergriffiger Eltern, aufgewachsen in der DDR. Er war eingesperrt im Jugendwerkhof in Torgau, "ein Gefängnis", wie er selbst sagt, "nur schlimmer." Aus dieser härtesten aller Erziehungsanstalten der DDR konnte er nur eine Lehre ziehen: "Nie wieder Opfer sein!"

Sein weiterer Werdegang: Schläger, Erpresser, Stasizuträger, nach der Wende raus aus der DDR ins Milieu in Oberhausen, Türsteher. Dann zurück nach Weißenfels bei Halle, dort Kopf einer Bande: "Ich hatte da was zu sagen."

Er nennt sich der "Pate von Weißenfels", betreibt illegale Bordelle, einen Wachdienst, handelt mit Waffen und erpresst Schutzgeld. Immer wieder kooperiert Steffen R. mit der Polizei, verlädt Kumpane, um für sich selbst einen Vorteil daraus zu ziehen. Zehn Jahre lang spitzelt er für die Behörden in Sachsen-Anhalt.

Es sind Journalisten, von denen die Rechtsanwälte der von Steffen R. beschuldigten Rocker erfahren, dass andere Landeskriminalämter von den Kollegen in Sachsen-Anhalt schon 2003 vor dem Zeugen Steffen R. gewarnt worden waren, der sich "mehrfach als unzuverlässig erwiesen" habe.

Die Bundesanwaltschaft warnt die Kollegen

Beim Bundeskriminalamt und der Bundesanwaltschaft hatte sich der Zeuge Steffen R. ebenfalls angeboten. Diesmal wollte er von der rechten Zwickauer Terrorgruppe NSU, die er bei den Rockern getroffen haben wollte, erzählen. Das Neonazi-Trio hätte bei den Hells Angels gleich zehn Waffen gekauft. Auch hier ging Steffen R. ins Detail, wollte bei der Übergabe der Pistolen selbst dabei gewesen sein.

Die Ermittler der Bundesanwaltschaft erklärten ihn nach ausgiebigen Befragungen zum Lügner, der sich seine Informationen aus der Zeitungslektüre zusammenreime. In einem Schreiben teilt die Bundesanwaltschaft den Ermittlern in Kiel mit, Steffen R. habe "bewusst wahrheitswidrige Angaben gemacht, indem er Sachverhalte frei erfunden und reale Vorgängen aufgebauscht hat." Die Bundesanwaltschaft empfiehlt den Kollegen in Kiel Ermittlungen gegen den Zeugen einzuleiten: Wegen des Verdachts der Falschaussage und des Vortäuschens einer Straftat.

Dieses Schreiben der Bundesanwaltschaft wurde in Kiel aber über Monate weder dem Gericht noch der Verteidigung vorgelegt. Stattdessen, so kritisieren die Rechtsanwälte der fälschlich Beschuldigten, hätte man weiter auf diesen Zeugen gebaut und weitere Ermittlungsverfahren alleine auf diesen Zeugen gestützt. "Polizei und Staatsanwaltschaft haben in diesem Verfahren die Grundrechte von Beschuldigten ignoriert," erklären die Anwälte, "das war rechtsstaatswidrig."

Es lag ein Lächeln im runden Gesicht des Angeklagten Steffen R. als die Große Strafkammer ihm seine bereitwilligen Aussagen zu den Hells Angels hoch anrechnete und ihn zu einer vergleichbar milden Strafe von etwas mehr als vier Jahren verurteilte. Der Angeklagte, so hatte der Staatsanwalt erklärt, hätte sich vom gewalttätigen Rockermilieu gelöst und mit seinen Aussagen Mitglieder der Rockerbande Hells Angels belastet. Damit habe er sich und seine Familie selbst in Lebensgefahr gebracht.

Steffen R. hat keine Familie. Aber eine neue Identität und, nach Verbüßung seiner Haftstrafe, eine staatliche Apanage in einem Zeugenschutzprogramm.

200 Ermittlungsverfahren und ein Selbstmord

Einige Wochen nach dem Urteil geben die Ermittler die Grabungen unter dem Grund der abgetragenen Halle ergebnislos auf. Auch bei der Untersuchung des vermeintlichen Tatortes finden die Forensiker keinerlei Blutspuren oder verdächtige DNA. Am 10. Juli 2012 erklärte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, dass der seit mehr als zwei Jahren verschwundene Tekin Bicer nicht in einer Lagerhalle bei Kiel einbetoniert worden sei. Für die Ermittlungsbehörden stehe fest, dass sich im fraglichen Bereich weder ein Leichnam noch sterbliche Überreste befänden. Die Ermittlungen gegen die Beschuldigten werden dennoch fast zwei Jahre lang weiterverfolgt.

Über die Zahl der in diesem Zusammenhang insgesamt eingeleiteten Ermittlungsverfahren konnte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft keine Auskunft geben. Die Polizei bestätigte die Zahl 200. Die Liste der Verdächtigten war auf über 60 Frauen und Männer angewachsen, mit teilweise starken beruflichen oder geschäftlichen Konsequenzen für die Betroffenen. Alle, auch die fälschlich beschuldigten Beamten, sind rehabilitiert. Die Besitzerin der Halle wurde mit mehreren Hundertausend Euro entschädigt. Der Polizeieinsatz wird ebenfalls aus mehrere Hundertausend Euro geschätzt.

Der Inhaber der Auto-Werkstatt, der nach der Berichterstattung der Lokalpresse über den angeblichen Folterraum viele Kunden verloren hatte, hat sich das Leben genommen.

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