Nach der Flucht der 18-jährigen Natascha Kampusch aus dem Verlies ihres mutmaßlichen Entführers sucht die Polizei in Österreich nach Komplizen des Mannes. "Wir ermitteln in alle Richtungen", sagte der Leiter der Sonderkommission Natascha, Nikolaus Koch, am Freitag in Wien. Es gebe zurzeit aber keine konkrete Spur. Eine Polizistin sagte dem Österreichischen Rundfunk, sie gehe davon aus, dass die junge Frau während ihrer Gefangenschaft auch Opfer sexuellen Missbrauchs wurde.
Sie habe ihren Entführer "Gebieter" nennen müssen, berichtete Natascha den Ermittlern aus der Zeit ihrer Gefangenschaft. Eine Polizistin, die sie betreute, sagte dem Österreichischen Rundfunk (ORF), sie gehe davon aus, dass das Mädchen sexuell missbraucht worden sei. "Das ist ihr aber selbst nicht klar. Sie hat das immer freiwillig gemacht, hat sie gesagt", sagte die Polizistin Sabine Freudenberger. Die österreichische Tageszeitung "Kurier" berichtet in ihrer Samstagausgabe, Natascha habe geweint, als sie vom Selbstmord ihres Peinigers erfahren habe. Sie soll zudem tagebuchähnliche Notizen verfasst haben, die nun weitere Anhaltspunkte geben sollen.
DNS-Test beweist Identität
Ein DNS-Test brachte am Freitag den endgültigen Beweis für Nataschas Identität. Das Mädchen war 1998 im Alter von zehn Jahren auf dem Weg zur Schule verschleppt worden. Am vergangenen Mittwoch war ihr die Flucht gelungen. Der 44-jährige Niederösterreicher, in dessen Haus Natascha mehr als acht Jahre gefangen war, beging auf der Flucht vor der Polizei Selbstmord.
Die Polizei steht mit der behutsamen Befragung der jungen Frau erst am Anfang. Sie lebt von der Öffentlichkeit abgeschirmt an einem geheimen Ort und wird rund um die Uhr von einer Psychologin betreut. Die Vernehmungen seien für Natascha sehr belastend, sagte der Ermittler Erich Zwettler. Auf Anraten der Ärzte würden sie nun bis Anfang der Woche unterbrochen, um Natascha Zeit zur Erholung zu geben.
150 Kilo schwere Tür zum Verlies
Natascha war seit März 1998 in einem Verlies unter der Garage eines Haus in Strasshof in der Nähe von Wien gefangen. Auf den von der Polizei veröffentlichten Fotos ist eine winzige fensterlose Kammer mit Hochbett, Schreibtisch, Waschbecken und Toilette zu sehen. Das Versteck in einer schalldichten Grube war rund zwei mal drei Meter groß. Von außen war der Zugang durch einen Tresor und eine etwa 150 Kilo schwere Tür versperrt.
Die Nachbarn in Strasshof sind erschüttert. Der mutmaßliche Entführer wird als unauffälliger, intelligenter Mann beschrieben. "Man kann sich in einem Menschen so täuschen. Ich hätte mir das nie gedacht", sagte eine Anwohnerin. "Man hat nichts bemerkt", sagte eine andere Frau aus der Siedlung. Die Polizei ist dabei, die zahlreichen Spuren am Tatort zu sichern und den Tagesablauf der jungen Frau nach und nach zu rekonstruieren. In den letzten Monaten dürfte sie sich unter Aufsicht auch im ganzen Haus und im Garten aufgehalten haben. Ermittler Koch beantwortete die Frage, ob der mutmaßliche Entführer Natascha im Verlies beobachtet, gefilmt und überwacht habe, ausweichend. "Er hat sich bemüht, größtmögliche Kontrolle über das Opfer zu haben", sagte Koch.
Polizei sucht Komplizen
Bei der Suche nach möglichen Komplizen des Entführers stützt sich die Polizei auf die Aussage einer damals zwölfjährigen Schulfreundin von Natascha. Sie hatte ausgesagt, sie habe gesehen, wie Natascha von einem Mann in einen Lieferwagen gezerrt worden sei, den eine andere Person gelenkt habe. Die junge Frau werde erneut dazu befragt werden, sagte Koch. Am Nachmittag wurde auch der beste Freund des Entführers einvernommen.
Der österreichische Polizeipsychologe Thomas Müller schloss im österreichischen Rundfunk ORF die Möglichkeit eines Komplizen oder Mitwissers nicht aus. Müller sieht bei dem Täter eine "hochgradig sadistische Motivation", da er sein extrem junges Opfer über einen so langen Zeitraum gefangen gehalten habe. Der Mann habe sie im Verlies auch unterrichtet, mit Büchern versorgt sowie fernsehen und Radio hören lassen.
Flucht beim Staubsaugen
Am Mittwoch gelang dem Mädchen die Flucht, als sie den Auftrag bekam, den Wagen des Verdächtigen im Garten mit dem Staubsauger zu reinigen. Dabei habe sich der Mann wegen des Lärms einige Meter von dem Auto entfernt, weil er telefoniert habe, sagte der Ermittler Gerhard Lang. "Natascha hat die Situation erkannt und ist aus dem Garten geflohen", sagte er.
Den Ermittlern zufolge gibt es bei Natascha Hinweise auf das Stockholm-Syndrom, bei dem Entführungsopfer innige Beziehungen zum Täter aufbauen. "Wenn jemand unter ständiger Todesangst leidet und ohne Vater und Mutter einer übermächtigen Person ausgeliefert ist, dann versteht man, wie sich solche Mechanismen entwickeln," sagte der Gerichtspsychiater Reinhard Haller der Nachrichtenagentur Reuters. Nach ihrer Flucht sah Natascha auch ihre Eltern wieder. "Natascha ist mir um den Hals gefallen und hat gesagt 'Mama Mausi'", berichtete ihre Mutter Brigitta Sirny nach der ersten Begegnung unter Tränen.