Was könnte angsteinflößender sein? Am 6. April 2001 hebt eine Frau im kalifornischen Sacramento den Telefonhörer ab. Was sie hört, lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren. "Erinnerst du dich daran, als wir gespielt haben?" Dann knackt es in der Leitung, der Anrufer hat aufgelegt.
Die Stimme gehört zum furchtbarsten Moment ihres Lebens - durchlitten rund 25 Jahre zuvor. Die Frau ist eines der Opfer des East Area Rapists, einem Serienverbrecher aus Kalifornien, dem rund 50 Vergewaltigungen und zunächst ein Mord in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre angelastet werden. Er konnte nie gefasst werden. Am Tag zuvor hatte die örtliche Zeitung "Sacramento Bee" einen Artikel veröffentlicht, in dem berichtet wurde, dass die Polizei nun bestätigen könne, dass der East Area Rapist und ein weiterer gesuchter Serienkiller, der sogenannte Original Night Stalker, ein und dieselbe Person sind. Der Artikel hatte den Täter wohl zu dem Anruf inspiriert. Ein Albtraum.
Der Anruf vor 17 Jahren war das letzte bekannte Lebenszeichen des letztlich als Golden State Killer in die Kriminalgeschichte der USA eingegangenen Mannes. Bis jetzt. Die Polizei ist überzeugt, dass sie nach mehr als 40 Jahren seit seinen ersten Verbrechen den berüchtigten Serientäter gefasst hat. In seiner Wohnung in Citrus Heights, einem Vorort von Sacramento, wurde der 72 Jahre alte Joseph James DeAngelo festgenommen. DNA-Spuren von den früheren Tatorten führten die Ermittler nun - wie sie glauben zweifelsfrei - zu dem ehemaligen Polizisten. DeAngelo sei sehr überrascht gewesen, berichteten die Ermittler. In zwei Mordfällen aus dem Jahr 1978 wurde bereits Anklage erhoben. Zur Last gelegt werden dem Golden State Killer insgesamt aber mindestens 50 Vergewaltigungen, zwölf Morde sowie Diebstahl, Einbruch und Überfälle. Zwischen 1976 und 1986 versetzte der Mann mit seinen mit äußerster Brutalität ausgeführten Verbrechen halb Kalifornien in Angst und Schrecken.
Die Gen-Spuren scheinen keinen Zweifel zu lassen, dass Joseph James DeAngelo der gesuchte Serienkiller, eigentlich mehrfache Serientäter, ist. Hätte die Polizei schon in den 1970er-Jahren über DNA-Analyse und Handy-Ortung verfügt, hätte sie wohl so manches brutale Verbrechen verhindern können. Der Golden State Killer schrieb Briefe, hinterließ andere Schriftstücke, terrorisierte seine Opfer am Telefon und provozierte mit Anrufen die Polizei - möglicherweise, wie sich nun zeigt, seine Kollegen. Genug Material, den Mann zu überführen und herauszufinden, dass diese eine Person sogar für drei Verbrechensserien verantwortlich ist.
Die Anfänge: The Visalia Ransacker
Die Verbindungen wurden schon in den Siebzigern gezogen, nach der Festnahme von DeAngelo als Golden State Killer teilte die Polizei von Visalia mit, dass man "zuversichtlich sei, dass der Visalia Ransacker gefasst worden sei." Als Visala Ransacker (Der Plünderer von Visalia) wird ein Serientäter bezeichnet, der in Jahren 1974/75 mehr als 100 Verbrechen in der 120.000-Einwohner-Stadt in Kalifornien verübt hat. Zumeist handelte es sich dabei um Einbrüche in Wohnhäuser, bei denen er die Einrichtung zerstörte und nur vereinzelte, meist nicht sehr wertvolle Dinge stahl. Dieses Vorgehen erinnert stark an die weit brutaleren Verbrechen, die spätere Serientäter verübten, und die erst nach und nach mit ein und derselben Person in Verbindung gebracht wurden. Zu der These, dass der als Golden State Killer festgenommene DeAngelo auch der Ransacker ist, passt die Tatsache, dass DeAngelo zur Zeit der Ransacker-Verbrechen bei der Polizei im nahen Exeter stationiert war, ehe er versetzt wurde.
Mit der Zeit wurden die Taten des Plünderers schwerer und am 11. September 1975 kam es wohl zum ersten Mord. An diesem Tag brach der Mann in das Haus von Claude Snelling, einem Journalistik-Professor am College of the Sequoias ein. Als dieser mitten in der Nacht aufwachte, stellte er in seiner Garage den mit Ski-Maske verhüllten Ransacker, der die 16-jährige Tochter Senellings entführen wollte. Der Maskierte schoss zweimal auf den Professor, der seinen Verletzungen schließlich erlag. Der Täter floh. Drei Monate später wäre der Verdächtige bei einem weiteren Einbruch fast geschnappt worden, doch der Ransacker schoss - während er vorgab, sich zu ergeben - auf einen Polizisten und konnte fliehen. Monate später brachte der Detective, der vom Ransacker beinahe angeschossen worden wäre, angesichts von Personenbeschreibungen und einer Reihe von Indizien die Taten des Ransackers in Zusammenhang mit brutalen Verbrechen im Sacramento County.
Der Vergewaltiger: East Area Rapist
Zu dieser Zeit lebte das County bereits in Angst und Schrecken. Ein Mann, der häufig beobachtet wurde, wie er in Vierteln herumlungerte, um Frauen ausfindig zu machen, die allein lebten oder zeitweise allein oder allein mit einem Kind in ihren Häusern waren, wurde nach einer Reihe von brutalen Vergewaltigungen als East Area Rapist, Vergewaltiger der East Area, bezeichnet. Mehrfach wurde er angesprochen, konnte aber immer fliehen, wobei ihm in einem Fall ein Student folgte, den der Mann jedoch durch einen Schuss verletzte und so stoppte. Wie sich bei den Ermittlungen herausstellte, hatte der Täter einige Häuser seiner späteren Opfer zuvor ausgekundschaftet, zum Teil Monate im Voraus, um sich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen, Fluchtwege vorzubereiten, indem er Türen aufschloss, und vorhandene Waffen zu entladen. In dieser Zeit begann er auch damit, seine Opfer anzurufen - zunächst nur, um ihren Tagesablauf zu verstehen. Manchmal legt er einfach auf oder gab vor, die falsche Nummer gewählt zu haben. In einigen Fällen rief er seine Opfer aber auch nach der Tat an, um sie erneut zu bedrohen. Im Januar 1978 zeichnete eines der Opfer einen Anruf auf, der die eskalierende Gewalt künftiger Taten praktisch ankündigte. "Gonna kill you", sagte der East Area Rapist damals, "ich werde dich umbringen".
Zunächst aber änderte der Rapist sein Vorgehen. Statt einzelne Frauen anzugreifen, wurden nun Paare zu seinen Opfern - und zwar in deren Wohnungen. Meist drang er durch Fenster oder Schiebetüren ein, weckte die Schlafenden und bedrohte sie mit Schusswaffen. Dann zwang er zumeist die Frauen, ihren Partner zu fesseln, ehe er selbst die Frau fesselte. Oft hatten die Überfallenen noch Stunden nach ihrer Befreiung kein Gefühl in den Händen, weil die Fesseln dermaßen festgezurrt worden waren. Nach der Fesselung begann der diabolische Teil des Überfalls: Häufig wurde auf dem Rücken des Mannes Geschirr gestapelt - verbunden mit der Drohung, sollte das Geschirr klappern, würden beide getötet. Währenddessen nahm der Täter die Frau vorzugsweise ins Wohnzimmer, wo er sie mehrfach über Stunden hinweg vergewaltigte. Schließlich machte sich der Rapist aus dem Staub, wobei seine Opfer oft nicht sicher sein konnten, ob ihr Peiniger tatsächlich weg war. Der Rapist ließ dabei häufig persönliche Dinge seiner Opfer mitgehen.
49 solcher Taten wurden zwischen Juni 1976 und Juli 1979 registriert; einige in Citrus Heights, wo der nun laut Polizei als der Rapist indentifizierte 72-Jährige nun festgenommen wurde. Die 50. Tat des East Area Rapist endete für die Opfer tödlich. Es war der einzige bekannte Mord in der Rapist-Phase des Golden State Killer - womöglich als Ergebnis einer misslungenen Tat. Am Abend ging das Ehepaar Brian und Katie Maggiore in Rancho Cordova mit dem Hund spazieren - unweit der Tatorte von nicht weniger als fünf East-Area-Rapist-Verbrechen - als es zu einer unheimlichen Begegnung auf der Straße kam. Das Paar beschloss zu fliehen, doch sie wurden von dem unheimlichen Unbekannten gejagt und erschossen. Einige Indizien deuteten auf den Rapist als Täter, doch erst 2016 gab das FBI bekannt, praktisch sicher zu sein, dass er der Mörder war.
Eskalierende Gewalt: Original Night Stalker
Vom Oktober 1979 an eskalierte die Gewalt bei den Taten des Golden Gate Killers. Nahezu jedes seiner Opfer wurde getötet. Da sich die Morde nun in Südkalifornien ereigneten, wurden sie lange nicht mit dem East Area Rapist in Verbindung gebracht. Stattdessen glaubte die Polizei an einen lokalen Mörder. Wieder gab es einen neuen Titel für den Serienkiller: the Original Night Stalker. Erst später fiel der Zusammenhang mit den früheren Serien auf: Die Überfälle zuhause, die Fesselungen, das Stehlen unbedeutender und/oder persönlicher Gegenstände.
Zwischen 1979 und 1981 tötete der Stalker vier Paare und eine Frau - alle in ihren Wohnungen. Ein Paar in der Ortschaft Goleta, das im Oktober 1979 als erstes in dieser Reihe überfallen wurde, überlebte, weil es sich wehrte, die Frau schreien konnte und der Nachbar ein FBI-Agent war, der den Täter jedoch nicht stellen konnte. Dass der Stalker die beiden ebenfalls töten wollte, steht außer Frage. Während der Tat sang er angeblich leise "Ich werde sie töten" vor sich hin.
Ende Dezember desselben Jahres wurde ein weiteres, ebenfalls in Goleta lebendes Paar erschossen aufgefunden. Offenbar hatte sich der Mann gewehrt, Nachbarn hörten Schüsse, glaubten aber an einen harmlosen Grund. Pfotendabdrücke eines großen Hundes gaben Rätsel auf. 1980 mordete der Stalker zweimal. Im März wurde ein Paar in seiner Wohnung in Ventura erschlagen aufgefunden, die Frau war zudem vergewaltigt worden. Handgelenke und Knöchel waren mit einer Vorhangschnur gefesselt, zusammengehalten durch einen chinesischen Diamantknoten. Dieser ungewöhnliche Knoten war auch bei mindestens einer Tat des East Area Rapist aufgetaucht, wodurch eine Verbindung zwischen den beiden Mordserien sichtbar wurde. Es entstand kurzzeitig der Beiname The Diamond Knot Killer. Im August wurde ein weiteres Paar in seiner Wohnung von dem Stalker zu Tode geprügelt. 1981 ereilte ein Paar aus Goleta im Juli ein ähnliches Schicksal. Anfang Februar war eine Frau, deren Mann im Krankenhaus lag, in ihren Haus vergewaltigt und ermordet worden. Auch sie war gefesselt, als der Stalker sie erschlug.
Mit dieser Eskalation der Gewalt schien der Blutdurst des Stalkers gestillt. Erst viel später konnte ein weiterer Mord durch DNA-Spuren mit dem Mann in Verbindung gebracht werden. Fünf Jahre vergingen, bis der Stalker ein letztes Mal mordete. Sein Opfer war eine 18-Jährige, die in Irvine allein im Haus war, weil ihre Familie im Urlaub war. Auch sie wurde zu Tode geprügelt.
Der Golden State Killer
Es war die Krimiautorin Michelle McNamara, die den Begriff Golden State Killer für den Mann prägte, der über ein Jahrzehnt hinweg, brutale Verbrechen in großen Teilen Kaliforniens verübt hatte. Mit ihren Recherchen für ihr Buch "I'll Be Gone in the Dark" ("Im Dunkeln bin ich weg") dürfte sie maßgeblich zur Aufklärung des Falls beigetragen haben, wie ihr Ehemann Patton Oswalt via Instagram betonte. 2016 war McNamara gestorben. Ihr auf Fakten basierendes Buch über die Suche nach dem Golden State Killer erschien erst vor kurzem. Die Polizei-Ermittlungen in allen Fällen gingen weiter, vor allem die DNA-Analyse ermöglichte bald eindeutige Zusammenhänge herzustellen, fassen konnte man den Killer trotzdem nicht. Weshalb der Mann aufhörte zu töten, ist unklar. Seit dem Mord von 1986 verübte der Golden State Killer offenbar kein weiteres Verbrechen.
Dreimal aber brachte er sich in Erinnerung. Schon während seiner aktiven Zeit hatte er seine Opfer immer wieder mit Anrufen terrorisiert, dabei handfeste Drohungen ausgesprochen oder auch nur sarkastische Grüße durchgegeben: "Merry christmas, it's me again!" (der sogenannte "Christmas Call" vom 9. Dezember 1977). 1982 - also nach seinen Serientaten, aber vor dem Nachzügler-Mord 1986 - brachte sich der Killer bei einem seiner Ex-Opfer in Erinnerung. Er rief die Frau an ihrem Arbeitsplatz in einem "Denny's Restaurant" an und drohte ihr, sie erneut zu vergewaltigen. Ermittler glauben, dass der Killer zuvor in dem Restaurant gegessen, sein früheres Opfer erkannt und sie später angerufen habe. 1991 meldete er sich erneut bei einem früheren Opfer. Die Frau brachte es über sich, eine Weile mit ihrem früheren Peiniger zu sprechen. Später berichtete sie, im Hintergrund eine Frau und Kinder gehört zu haben. Offenbar hatte er eine Familie gegründet. 2001 schließlich der letzte Anruf bei einem weiteren Opfer "Erinnerst du dich daran, als wir gespielt haben."
Die Polizei in Sacramento ist sich sicher, mit Joseph James DeAngelo den Golden State Killer gefasst zu haben. Ein "weggeworfenes" DNA-Beweismittel habe die Ermittler auf die heiße Spur gebracht. Wie genau der mutmaßliche Täter überführt wurde, gab die Polizei zunächst nicht preis. "Wir haben die Stecknadel im Heuhaufen gefunden", erklärte die Bezirksstaatsanwältin Anne Marie Schubert. Eine Frau, die 1976 zu den ersten Vergewaltigungsopfern des gefürchteten damaligen East Area Rapist gehörte, reagierte mit Erleichterung auf die Festnahme. "Ich bin von Freude überwältigt", sagte Jane Carson-Sandler der Zeitung "The Island Packet". Die Angst, dem Monster nochmals zu begegnen, ist vorbei.
