Das Muster ist immer gleich: Sie lernen sich im Internet kennen, organisieren auf speziellen Selbstmordseiten Treffpunkt, Auto und Holzkohleöfen. Dann stellen die Todeskandidaten ihren Wagen auf einem einsamen Parkplatz ab, versiegeln den Innenraum mit Klebeband, werfen die Öfen an und nehmen Schlaftabletten. Das Kohlenmonoxid bringt sie um, bevor sie entdeckt werden.
Seit Jahren steigt die Zahl der Gruppenselbstmorde in Japan stark an. 2004 haben mehr als 50 Japaner auf diese Weise Selbstmord begangen. Im vergangenen Jahr waren es schon mehr als 90. Erst Anfang des Monats wurden wieder drei junge Frauen auf einem Parkplatz westlich von Tokio tot aufgefunden. Die Holzkohleöfen qualmten noch.
Verglichen mit der allgemeinen Selbstmordrate ist die Zahl der so genannten "Shuudanjisatsu", der Gruppenselbstmorde, zwar verschwindend klein. Insgesamt haben sich im vergangenen Jahr 34.000 Japaner umgebracht, die große Mehrheit davon allein. Doch die Medienwirkung der kollektiven Freitode ist enorm: Sie schockieren die Öffentlichkeit - und rufen immer mehr Nachahmer auf den Plan.
Angst vor der Einsamkeit
Was treibt Menschen dazu, sich über das Internet Sterbebegleiter zu suchen? Auf einer der zahlreichen Selbstmordseiten gewährt ein namenloser Nutzer Einblick in sein trauriges Gefühlsleben: "Schlaf, aus dem mich nichts mehr aufweckt. In zehn und in hundert Jahren nicht. Ich will loslassen, aber ich kann mir nicht vorstellen, zu nichts zu werden und habe etwas Angst. Eigentlich habe ich sogar große Angst."
Nutzer "Überlegenheit" antwortet: "Alleine zu sterben ist unerträglich erschreckend... Aber wenn alle sterben, dann ist es nicht mehr so schlimm." Angst vor der Einsamkeit scheint ein Motiv, das Verzweifelte dazu antreibt, ihre letzten Stunden mit Wildfremden zu teilen. Und das Internet ist idealer Treffpunkt zum anonymen Gedankenaustausch. Ein sechzehnjähriges Mädchen schrieb am 6. September von ihrem Wunsch zu sterben, ein Mann aus Kansai bot zwei Tage später sein Auto an.
"Komplettes Selbstmordhandbuch"
Seit den Neunzigern werden solche Todespakte im World Wide Web geschlossen. Kayoko Ueno, Soziologieprofessorin an der Universität von Tokushima, ist nicht die Einzige, der das Internet Sorge bereitet. Es sei Brutstätte für alle möglichen negativen Gefühle. Angekündigte Selbstmordpläne würden dort oft mit anstachelnden Kommentaren quittiert, schreibt sie in ihrer Abhandlung zur Selbstmordkultur Japans. Die Worte schwebten verantwortungslos im Raum, ihre Urheber versteckten sich hinter ihrer Anonymität.
Zudem sei es schwierig, aus einem vereinbarten Gruppenselbstmord wieder auszusteigen. Für viele Todeswilligen spricht allerdings gerade diese Gruppendynamik für das gemeinsame Sterben: Wenn man sich einmal entschieden hat, gibt es kein Zurück.
Die japanische Polizei versucht, dem Trend Einhalt zu gebieten. Im vergangenen Oktober startete sie gemeinsam mit Internetanbietern eine Kampagne. Die Anbieter sollten die Namen der Nutzer herausgeben, die im Netz Selbstmordpläne ankündigten. 14 Menschen sollen durch das Einschreiten der Polizei davon abgehalten worden sein, sich umzubringen, schrieb die Journalistin Hiroko Tabuchi im März.
"Schön sterben"
Doch nicht nur düstere Internetforen stacheln zum Sterben an. 1993 veröffentlichte Autor Wataru Tsurumi das "Komplette Selbstmordhandbuch", das seither mehr als eine Million Mal verkauft worden ist. Der Verlag Oota Shuppan hat allein in diesem Jahr rund 10.000 Exemplare verlegt.
Das Buch beschreibt zehn Methoden des Freitods, deren Erfolgsraten, den Schmerz, den sie verursachen und die Verfassung des Körpers danach. Letzteres ist wichtig: In der japanischen Kultur sei Selbstmord "tragisch und doch schön und irgendwie ehrlich", sagt Mafumi Usui, Psychologieprofessorin an der Niigata Seiryou Universität, zur Nachrichtenagentur AP. "Der Erstickungstod beschädigt den Körper nicht. So glauben die Opfer, schön sterben zu können." Außerdem sind tragbare Holzkohleöfen problemlos und unauffällig zu besorgen.
Aokigahara, ein Waldstück am Fuß des Fujisan, wird seit Seichou Matsumotos Roman "Nami no Tou" mit Selbstmord in Verbindung gebracht. Seit der Veröffentlichung des "Selbstmordhandbuchs" ist die Zahl der Menschen, die sich dort das Leben nehmen, sprunghaft gestiegen. Der Ort ist laut Tsurumi der "ideale Platz zum Sterben". Die Behörden haben Mahnschilder aufstellen lassen: "Überdenken Sie Ihre Entscheidung doch noch einmal". Doch Tsurumi ist überzeugt, dass keine Mahnung und kein Gesetz die Selbstmorde verhindern können. "Es ist das Recht jeden Einzelnen, sich das Leben zu nehmen", sagte er der Zeitung "The Guardian".
Akzeptabler Ausweg
In zwei Drittel von Japans Präfekturen ist sein Buch mittlerweile für Minderjährige verboten. Doch die Nachfrage ist nicht versiegt. In einer Gesellschaft, in der der Leistungsdruck hoch ist und Scham und Hilfsbedürftigkeit verachtet werden, ist Selbstmord ein akzeptabler Ausweg für bankrotte Familienväter genauso wie für depressive Jugendliche.
Gegendarstellungen wie das vor vier Jahren veröffentlichte Buch "Die Kosten des Selbstmords" scheinen zwar makaber, verfolgen aber eine durchdachte Taktik. Das Werk beschreibt minutiös, welche Kosten ein Freitod verursacht - zum Beispiel für die Betreiber des Zugs, vor den sich der Betroffene wirft und für seine Familie, die die Lebensversicherung des Toten nicht ausgezahlt bekommt. Vielen Japanern ist es unangenehm, der Gesellschaft zur Last zu fallen. Den Anstieg der Opferzahlen konnte das Buch bis jetzt dennoch nicht verhindern.
Von Harakiri bis Kamikaze
Bücher und das Internet scheinen ein tiefer liegendes Phänomen zu verschärfen. Selbstmord ist in Japan gesellschaftlich akzeptiert und wurde lange Zeit verherrlicht. Das zeigt sich bereits an der Sprache. Wörter wie "Harakiri", "Kamikaze" und "Seppuku" kennt man bereits aus Filmen. "Shinjuu" meint den Selbstmord zweier Liebenden, "Oyakoshinjuu" den von Mutter und Kind, "Ikkashinjuu" den Freitod einer ganzen Familie.
"Chushingura", die Legende von 47 treuen Samurai im 18. Jahrhundert, die den erzwungenen Selbstmord ihres Herrn erst rächten und dann gemeinsam Massenselbstmord begangen, wurde in Japan viele Male verfilmt. Vor drei Jahren wurde auch das "Selbstmordhandbuch" verfilmt. Der Film verwandle ein schwermütiges, tiefgründiges Thema in einen leichten Krimi und verpasse die Chance, Stellung gegen Gruppenselbstmorde zu beziehen, kritisiert ein Nutzer auf Amazon.co.jp. Das sei extrem schade.