12. April 2007. Seit diesem Tag ist viel passiert, die Welt hat sich verändert: In den USA heißt der Präsident nicht mehr George W. Bush, die Kleinstadt Winnenden wurde zum Schauplatz eines Amoklaufes und die globale Wirtschaft ist in eine tiefe Krise gerutscht. Doch eines hat sich seither nicht verändert: Nach wie vor muss sich der deutsche Schüler Marco Weiss gegen Vorwürfe wehren, er habe in der Nacht zum 12. April 2007 ein britisches Mädchen sexuell missbraucht. Am kommenden Freitag, fast auf den Tag genau zwei Jahre danach, kommt das Gericht im türkischen Antalya erneut zusammen, um über den Fall zu verhandeln.
Selbst die Kanzlerin schaltete sich ein
Seit dem 8. Juni 2007, dem ersten Prozesstag, geht es um die Frage, was genau in jener Nacht an Ostern passiert ist. Unbestritten ist, dass sich Marco Weiss und das britische Mädchen Charlotte in einer Disco im türkischen Badeort Side kennenlernten. Nach dem Tanzen begaben sich die beiden Teenager, er 17, sie 13, gemeinsam auf das Hotelzimmer der Britin. Marco sagt, Charlotte habe ihn auf ihrem Bett gestreichelt, bis er zum Orgasmus gekommen sei. Er habe sie für wesentlich älter gehalten, sie habe sich als 15-Jährige ausgegeben. Das britische Mädchen dagegen behauptet, Marco habe sich gegen ihren Willen auf sie gelegt und sexuell missbraucht. Charlottes Mutter erstattete daraufhin Anzeige, Marco Weiss wurde festgenommen.
Immer wieder wurde der dann folgende Prozess verschoben, während der 17-Jährige in Untersuchungshaft blieb. In Deutschland gab es heftige Proteste gegen die angeblich unrechtmäßige Behandlung des Jugendlichen, selbst Kanzlerin und Außenminister schalteten sich ein. Die türkischen Richter trotzen jedoch der Kritik aus Deutschland, erst im Dezember 2007 wurde der heute 19-Jährige aus der Haft entlassen.
Rechtsmedizinisches Gutachten fehlt
Doch juristisch ist der Fall noch lange nicht geklärt, meint Marco Weiss' türkischer Anwalt. "Ich erwarte keine Entscheidung am Freitag", sagte Ahmet Ersoy zu stern.de. "Das Gericht wird am Freitag nur entscheiden, ob es eine weitere Beweisaufnahme für nötig erachtet oder ob nun die Plädoyers gehalten werden sollen."
Die türkischen Richter könnten nach Meinung Ersoys eine weitere Beweisaufnahme anordnen, da nach wie vor ein rechtsmedizinisches Gutachten fehle, das zu einer möglichen Vergewaltigung von Charlotte und den psychischen Langzeitfolgen des Mädchens Stellung nimmt. Für ein solches Gutachten müsste das Mädchen aber wohl in die Türkei reisen, was sie bisher strikt abgelehnt hat.
"Im Grunde" eine Vergewaltigung
Und auch wenn das Gericht am Freitag entscheidet, dass es nun Zeit ist für die Plädoyers von Rechtsanwälten und der Staatsanwaltschaft, wird es dafür weitere Prozesstermine geben, meint Ersoy. Was auch geschehen wird, Marcos Verteidiger ist optimistisch: "Ich erwarte am Ende einen Freispruch. Marco ist unschuldig."
Naturgemäß ganz anders sieht das der Rechtsanwalt des britischen Mädchens. "Marco wird eine Strafe bekommen", sagte Ömer Aycan zu stern.de. Er gehe nach wie vor davon aus, dass es sich bei der Tat "im Grunde" um eine Vergewaltigung handelte. Allerdings waren die Äußerungen Aycans und seiner Mandantin im Verlaufe des Prozesses uneinheitlich. Charlotte selber hat ausgesagt, zu einer Penetration sei es nie gekommen. Ihr Anwalt dagegen blieb bei seiner Ansicht und forderte die Höchststrafe wegen Vergewaltigung für den Deutschen. Jetzt sagt der Jurist: "Marco wird nicht nur eine Geldstrafe bekommen, sondern wahrscheinlich eine Gefängnisstrafe. Allerdings wird diese wohl aufgrund seines Alters zur Bewährung ausgesetzt."
"Es brodelt noch immer in mir"
Ähnlich sieht es Silvia Tellenbach, Expertin für türkisches Recht vom Max-Planck-Institut Freiburg: "Ich tippe auf eine Bewährungsstrafe oder sogar Freispruch", sagte sie. Der Angeklagte selber wird nicht vor Gericht erscheinen. Marco Weiss, der im Sommer eine Ausbildung als Mechatroniker beginnen will, macht mit seiner Freundin und seinem Hund Urlaub am Meer in Norddeutschland. Per E-Mail antwortete er stern.de: "Natürlich glaube ich an einen Freispruch! Die Beweise zeigen doch auch, dass ich unschuldig bin. Ich ahnte ja auch nicht, dass sie noch so jung war, sonst hätte ich mich nicht auf sie eingelassen." Die Geschehnisse machen ihm immer noch zu schaffen, schreibt der 19-Jährige: "Im täglichen Leben habe ich häufig noch Probleme. Es brodelt noch immer ihn mir, ich spüre die Ungerechtigkeit, die mir passiert ist, und vieles mehr..."
Seine Erlebnisse in der Türkei hat Marco Weiss in einem Buch verarbeitet, das im Dezember 2008 erschienen war. Dies hatte ihm heftige Kritik eingebracht, seine beiden deutschen Anwälte hatten ihr Mandat niedergelegt. Sie hatten befürchtet, dass das Werk von den Richtern in der Türkei negativ gegen ihren Mandanten ausgelegt werden könnte. Diese Angst hat Marco nicht. "Ich beschreibe in meinem Buch nur das Erlebte und ich habe mich dem Gericht gegenüber immer respektvoll verhalten. Also gibt es auch keinen Grund, warum das Buch eine negative Wirkung haben sollte." Von dem Prozesstermin am Freitag erwartet Marco Weiss nur eines: "Endlich mal ein Ende!"