Hans-Ludwig Kröber kneift die Lippen zusammen. Dem kräftigen Mittfünfziger mit den dichten, schwarzgrauen Locken ist nur kurz anzumerken, dass ihm die Situation gerade nicht behagt. Er wolle, sagt er bedächtig, diese Entscheidung in die Hände des Gerichts legen. Dessen Vorsitzender Hans Jagenlauf hatte den Direktor des Instituts für Forensische Psychatrie der Berliner Charité gerade um eine Prognose zur künftigen Gefährlichkeit von Uwe K. gebeten. Sie ist der entscheidende Punkt in dem Verfahren gegen den geständigen Mörder des kleinen Mitja vor dem Leipziger Landgericht. Das K. aufgrund der "glasklaren Faktenlage", von der selbst sein Anwalt Malte Heise spricht, für die Vergewaltigung und Ermordung des neunjährigen Jungen das Urteil Lebenslänglich zu erwarten hat, ist allen Prozessbeteiligten ohnehin klar. Mit Kröbers Hilfe soll auch geklärt werden, ob Uwe K. zusätzlich in Sicherungsverwahrung genommen werden muss - und damit keine Chance hat, nach 15 Jahren wieder auf freien Fuß zu kommen.
"Herr K. ist keiner, der sich durchhängen lässt."
Das zu entscheiden, betont Kröber, ist nicht seine Aufgabe. Gleichwohl macht der Professor, zurzeit einer der gefragtesten Kriminalpsychiater des Landes, keinen Hehl daraus, dass er bei Uwe K. ein Rückfall-Risiko sieht. Das hat nicht nur damit zu tun, dass Kröber den gelernten Maurer bereits zum zweiten Mal begutachten muss. Beim ersten Mal, 1997, hatte Kröber über seinen Probanden mehrere "Vielleicht"-Sätze formuliert. Ihr Tenor: Je nachdem, wie sich K. unter Kontrolle hat, seien sowohl ein positiver Verlauf - also keine weiteren Taten - als auch ein Rückfall in alte Verhaltensmuster denkbar. Das Risiko, sagt Kröber, hat vor allem damit zu tun, das die pädophilen Neigungen des Uwe K. "sehr ausgeprägt" seien.
Auf der anderen Seite habe K. sich über Jahre durchaus erfolgreich bemüht, "ein Leben zu führen, das den Normen entspricht", betont Kröber. Seit seiner Freilassung aus dem Maßregelvollzug Altscherbitz und seiner anschließenden Hochzeit 1990 sei K. lange nicht auffällig geworden. "Herr K. ist keiner, der sich durchhängen lässt." Und habe deshalb nie eine Versorgungsmentalität an den Tag gelegt, sondern sich stets bemüht, sich und seine Familie durch Einkommen aus geregelter Arbeit selbst versorgen zu können. Selbst den Alkoholkonsum habe er über lange Phasen so kontrolliert, dass seine Arbeit - unter anderem als Fahrer einer Drückerkolonne - nicht beeinträchtigt wurde.
Alkohol hat K.s pädophilie Triebe noch verstärkt
Das alles spricht aus Sicht des Psychiaters für einen "zeitweise durchaus bewussten, recht reflektierten Umgang" Uwe K.s mit seinen Problemen. Deswegen, so Kröber, halte er auch die Alkoholmengen, die sein Proband am Tattag zu sich genommen haben will, für nicht unbedingt realistisch. In seinem Geständnis hatte Uwe K. erklärt, am Vormittag in der Leipziger Innenstadt etwa fünf bis sechs Liter Bier getrunken zu haben. Am späten Nachmittag, als Mitja schon in K.s Wohnung war, seien noch einmal ein Liter Bier und ein Dreiviertelliter Schnaps dazugekommen. "Das entspräche beim damaligen Gewicht von Herrn K. etwa fünf Promille", sagt Kröber. Selbst langjährige Alkoholiker seien in einem solchen Rauschzustand nicht mehr zu Geschlechtsverkehr in der Lage.
Kröber geht deshalb von einem "deutlich niedrigeren" Wert aus. Der habe auch nicht zur Aufhebung der Steuerungsfähigkeit geführt. Eher im Gegenteil: Als K. den kleinen Mitja mit nach Hause nahm, habe er bereits den Plan gehabt, den Jungen zu missbrauchen. Dass er sich noch mit Schnaps und Bier in der Küche niederließ, während Mitja im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß, wertet Kröber als "letzte Aufschubhandlung". Gleichzeitig sei K. klar gewesen, dass der Alkohol seine pädophilen Triebe noch verstärke. "Man kann also unterstellen, dass er wusste, wohin er sich trinkt.", sagt Kröber.
Mitjas Tod war ein klassischer Verdeckungs-Mord
Doch das, so Kröber, habe K. vermutlich in einer Art "Jetzt ist sowieso alles egal"-Stimmung hingenommen, die für den 43-Jährigen charakteristisch sei. Schon in seiner Jugend habe K. in Krisen - und in einer solchen befand er sich nach der Trennung von Freundin und gemeinsamer Tochter und vom Arbeitgeber wegen Auftragsmangel verordnetem Zwangsurlaub Ende Februar, als er Mitja begegnete - lieber Probleme verdrängt und ausgesessen, als sich um ihre konstruktive Lösung zu bemühen.
Daher hält es der Psychatrie-Professor für "sehr wahrscheinlich", dass Uwe K. bis zur Vergewaltigung des kleinen Jungen auch konsequent ausgeblendet habe, was denn danach passieren solle. "Das Ersticken Mitjas war aus meiner Sicht nicht von Anfang an geplant, sondern eher der klassische Verdeckungs-Mord", sagt Kröber. In seinem Geständnis hatte K. angegeben, in Panik geraten zu sein und dem Jungen Mund und Nase zugedrückt zu haben.
Das bestätigt auch das rechtsmedizinischen Gutachten: Spuren belegten, dass Mitja verzweifelt versucht habe, sich aus den Armen seines Mörders zu befreien. "Der Junge hatte Panik und Todesangst", erläuterte der Rechtsmediziner Vladimir Wenzel. Schließlich sei der Neunjährige von hinten erwürgt worden.