Die 200 Einwohner des kleinen Dorfes Gunzesried bei Sonthofen im Allgäu sind geschockt. Sie hatten von den beiden Neubürgern nur den besten Eindruck. Ein 25 Jahre alte Krankenpfleger und seine Freundin hatten sich Anfang 2003 in der Parterrewohnung eines Mehrfamilienhauses am Ortsrand eingemietet und waren immer freundlich und hilfsbereit. Die Kollegen des 25-Jährigen im Sonthofener Krankenhaus beschreiben ihn als introvertiert und wenig teamfähig, manchmal sogar als unwirsch. Der junge Mann, der gestanden hat, zehn schwerst kranke Patienten zu Tode gespritzt zu haben, hatte offenbar zwei Gesichter.
Pfleger hatte "große kriminelle Energie"
Klinik-Geschäftsführer Andreas Ruland hält ihn für "psychisch krank". Der Krankenpfleger wurde einerseits als "liebenswert und hilfsbereit" beschrieben, seine Taten seien aber mit "großer krimineller Energie" ausgeführt worden, sagt Ruland. Er habe auch Patienten getötet, zu denen er keine persönliche Beziehung hatte und in einem Fall sogar eine Frau, die sich schon wieder auf dem Weg der Besserung befunden habe. Für sein todbringendes Handeln habe er Informationen von Ärzten benutzt, um Patienten für seine Todesspritzen gezielt auszuwählen.
Ruland zerbricht sich jetzt den Kopf darüber, ob das Töten früher hätte beendet werden können: "Das Vorgehen war so raffiniert, dass wir kaum eine Chance hatten." Die Zeitpunkte, zu denen der Pfleger die tödlichen Spritzen setzte, stehen offenbar in direktem Zusammenhang mit Äußerungen von Ärzten, die den Zustand der betroffenen Patienten als besonders kritisch bezeichnet hatten. Das plötzliche Ableben überraschte also niemanden. Bis auf einen Fall. In der Nacht zum 10. Juli starb das letzte Opfer des Pflegers, obwohl der behandelnde Arzt der Ansicht war, die Frau sei über den Berg. Seitdem rätseln die Mitarbeiter im Sonthofener Krankenhaus, ob der 25-Jährige entschlossen war, künftig auch andere, weniger kranke Patienten "von ihrem Leiden zu erlösen", wie er es in seinem Geständnis beim Haftrichter formuliert hatte.
Freundin wusste angeblich von nichts
Der junge Pfleger hatte in Ludwigsburg (Baden-Württemberg) seinen Zivildienst geleistet und eine Ausbildung im dortigen Klinikum absolviert. Danach war er mit seiner Freundin nach Gunzesried ins Allgäu nach Bayern gezogen. Die junge Frau arbeitete als Kinderkrankenschwester. Von der Festnahme ihres Freundes soll sie völlig überrascht gewesen sein. Sie hatte von seinen Taten offenbar nichts geahnt. Als sie das Ausmaß des Schrecklichen erfuhr, packte sie ihre Koffer und fuhr zu ihrer Familie.
In Gunzesried will inzwischen kaum noch jemand über das Pärchen sprechen. Ein Gunzesrieder, der im Herbst vorigen Jahres seinen kranken Vater im Sonthofener Krankenhaus öfter besucht hatte, berichtet von einem intensiven Gespräch mit dem Pfleger: "Er hat sich das Leid schon sehr zu Herzen genommen."
Mitleid als Motiv wird angezweifelt
An dem Motiv "Mitleid" hegt der Klinik-Chef erhebliche Zweifel. Einige der Opfer waren nicht einmal 24 Stunden auf der Intensivstation, bevor sie die tödliche Injektion erhielten. Wie sollte der junge Pfleger in dieser Zeit ein persönliches Verhältnis entwickelt und unerträgliches Mitleid empfunden haben, fragt Ruland. Zu dem angeblichen Motiv des Täters passe auch nicht die Art und Weise des Medikamentendiebstahls. Der Pfleger habe die drei in der Kombination tödlichen Präparate Midazolam, Etomidat und Lysthenon vermutlich auf Vorrat gestohlen, nicht aus konkretem Anlass.
Zunächst waren es die zu den verschwundenen Medikamente passenden Dienstzeiten, die den 25-Jährigen als Dieb in Verdacht brachten. Überführt wurde er, als er unter Verdacht stand und einige gestohlene Ampullen zurückbringen wollte, aber am falschen Platz ablegte. Die Zahl der im Sonthofener Krankenhaus entwendeten Ampullen reicht nach Ansicht der Ärzte aus, um damit mindestens 17 Menschen zu töten.