Es ist der 27. Februar 1975 und noch drei Tage bis zur Wahl des Abgeordnetenhauses von Berlin. Peter Lorenz ist Spitzenkandidat der CDU. Der 53-Jährige kann sich Hoffnung auf das Amt des Bürgermeisters machen. An jenem Morgen lässt er sich gegen neun Uhr von seinem Chauffeur ins Büro fahren. Nur wenige Meter vor seinem Haus wird er von einem querstehenden Lkw zum Anhalten gezwungen. Ein Pkw rammt den Dienstwagen. Der Fahrer wird mit einer als Besenstiel getarnten Eisenstange niedergeschlagen, der Politiker verschleppt. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass ein Politiker durch Terroristen entführt wird.
Gegen 13.30 Uhr wird in einer Tiefgarage in Charlottenburg sein verlassener Dienstwagen gefunden. Die Frontscheibe fehlt, im Wagen liegt eine Kanüle mit Plastikschutz. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Politiker betäubt wurde.
Polizeipräsident Klaus Hübner, der Lorenz persönlich kennt, läutet die größte Fahndungsaktion in der Berliner Geschichte ein. 4000 Beamte sind im Einsatz. Etliche Wohnungen und Häuser werden durchsucht, Straßensperren errichtet, Tausende Autos durchsucht. Eine Notrufhotline für eingehende Hinweise wird eingerichtet. Doch von den Entführern und Peter Lorenz fehlt jede Spur.
Entführer schicken Foto von Peter Lorenz
Am nächsten Morgen geht ein Schreiben bei der Deutschen Presse-Agentur in Berlin ein. Beigelegt ist ein Polaroid-Foto von Lorenz. Er sitzt auf einer Matratze und hat ein Pappschild um den Hals hängen mit der Aufschrift: "Peter Lorenz, Gefangener der Bewegung 2. Juni". Die Terroristen, eine der RAF nahestehende linksextreme Gruppierung, hat den CDU-Politiker in ihrer Gewalt. Für sie ist Lorenz ein "Vertreter der Reaktionäre und der Bonzen, verantwortlich für Akkordhetze und Bespitzelung am Arbeitsplatz."

Im Austausch für ihn fordern sie binnen 72 Stunden die Freilassung von sechs inhaftierten Terroristen: Horst Mahler, Verena Becker, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Ingrid Siepmann, Rolf Heißler und Rolf Pohle. Außerdem sollen ein Flugzeug und 20.000 Mark Handgeld pro Häftling bereitgestellt werden.
"Wir müssen Peter Lorenz freibekommen"
Im Schöneberger Rathaus versammelt sich zum ersten Mal der Krisenstab aus Politikern und Sicherheitsexperten. Die Parteispitzen stellen den Wahlkampf ein. Die Betroffenheit, aber auch die Hilflosigkeit ist groß. Zum ersten Mal ist in der Bundesrepublik und Berlin ein Politiker entführt worden. Und noch bevor die Forderungen der Terroristen bekannt sind, gibt der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz eine Marschroute vor, die in den folgenden Tagen eingehalten wird: "Wir müssen Peter Lorenz freibekommen. Dem haben sich alle anderen Erwägungen unterzuordnen". Da man die Entführer in keinster Weise verärgern möchte, wird auf offene Fahndungsmaßnahmen verzichtet. Doch hinter den Kulissen wird alles für die Freilassung der Terroristen vorbereitet. Berlins Ex-Bürgermeister Heinrich Albertz soll sie nach dem Willen der Entführer ins Ausland begleiten.

Am 2. März wird wie geplant gewählt und der Entführte zum Wahlsieger erklärt. Erstmals wird die CDU stärkste Partei im Berliner Abgeordnetenhaus und Lorenz mit 272 von 282 Stimmen für weitere zwei Jahre zum CDU-Landesvorsitzenden gewählt. Regierender Bürgermeister bleibt aber Klaus Schütz, der sich auf die Mehrheit der Stimmen einer Koalition aus SPD und FDP stützen kann.
Freigepresste Terroristen besteigen Lufthansa-Maschine
Am Morgen nach der Wahl – Lorenz befindet sich bereits den fünften Tag in der Gewalt der Entführer – besteigen fünf freigepresste Terroristen in Frankfurt am Main eine Lufthansa-Maschine. Das Fernsehen überträgt die Bilder live. Horst Mahler hatte sich geweigert, den Flug ins Ungewisse anzutreten. Die Boeing landet nach mehr als zehnstündigem Irrflug im Südjemen, dessen Regierung die Freigepressten auf Drängen Bonns aufnimmt.
Am nächsten Tag kehrt Albertz zurück, in der Tasche einen handbeschriebenen Zettel mit einer Botschaft der Freigelassenen an die Entführer. Der Sender Freies Berlin unterbricht um 18.09 Uhr seine Sendungen: "Wir grüßen die Genossen in Deutschland, die außerhalb des Knastes und die, die noch im Knast sind. Wir werden unsere Energie da reinsetzen, dass für sie auch bald so ein Tag, so wunderschön wie heute, anbrechen wird". Diese Worte sind das Signal für die Entführer, Peter Lorenz freizulassen. Wenige Stunden später meldet er sich um Mitternacht aus einer Telefonzelle in einem Park in Wilmersdorf.
Peter Lorenz stellt sich den Journalisten
Fünfeinhalb Tage saß er im Keller eines Ladenlokals in der Schenckendorfstrasse in Kreuzberg, in die er in einer Holzkiste verfrachtet wurde. Die Räume waren zuvor als Second-Hand-Laden angemietet worden. Die Entführer bezeichneten das Versteck als "Volksgefängnis".
Nur wenige Stunden nach seiner Freilassung stellt sich Lorenz auf einer Pressekonferenz den Journalisten: "Meine Damen und Herren, ich darf vorweg um Verständnis dafür bitten, dass ich ihnen nicht für eine unbegrenzte Zeit zur Verfügung stehen kann, weil meine physische und psychische Situation das noch nicht zulässt. Ich habe in der vergangenen Nacht drei Stunden geschlafen. Auch vorher, wie sie sich denken können, nicht so regelmäßig."
Auf die Frage eines Journalisten, ob er damit gerechnet habe, dass ihn die Entführer kaltblütig hinrichten oder ermorden werden, antwortete er: "Ja. Ich hatte Gottvertrauen, aber natürlich auch Angst, insbesondere bei allen Situationen, in denen es ja durchaus im Bereich des Möglichen lag, dass bestimmte Vorstellungen der Entführer nicht durchsetzbar waren." Er betont jedoch auch, dass die Entführer sich ihm gegenüber stets korrekt verhalten hätten. "Das heißt, ich hatte immer Waschgelegenheit, ich hatte immer zu essen und sie haben mich auch nicht in besonderer Weise schikaniert oder drangsaliert."
Die Polizei fasst innerhalb eines Jahres 15 Verdächtige. Fünf von ihnen werden im Oktober 1980 im Zusammenhang mit der Entführung zu hohen Haftstrafen verurteilt.
Krisenstab beruft sich auf Notstandsparagraphen
Schon unmittelbar nach dem Ende der Entführung setzt in der Bundesrepublik eine offene Diskussion darüber ein, ob die Entscheidung richtig gewesen sei, das Leben von Lorenz über die Staatsraison zu stellen. Am 6. März, einen Tag nachdem der CDU-Politiker freigelassen worden war, erklärt der Bonner Krisenstab, er sei "gemäß dem Notstandsparagraphen zu der Überzeugung gelangt, dass zum Schutz des konkreten Lebens die Beeinträchtigung des staatlichen Anspruchs auf Strafverfolgung und Strafvollstreckung habe in Kauf genommen werden dürfen".
Bundeskanzler Helmut Schmidt macht aber deutlich, dass der Fall Lorenz nicht als Richtschnur für ähnliche Situationen dienen könne. Künftig werde die Bundesregierung die Mittel des Rechtsstaates "mit aller Konsequenz und Härte einsetzen". Der damalige Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel erklärt später in einem Interview: "Ich habe schon damals gesagt, wenn wir diese Fünf entlassen, dann retten wir das Leben von Herrn Lorenz, aber wir verursachen dadurch den Tod von Menschen, die wir noch nicht identifizieren können. Denn die Freigepressten gehen ja nicht in den Ruhestand (…) sondern sie setzen ihre Aktivitäten fort."

Für die Terroristen wird der Fall Peter Lorenz zu einer Art Blaupause. Am 24. April 1975 stürmt das RAF-"Kommando Holger Meins" die deutsche Botschaft in Stockholm und nimmt 14 Geiseln. Gefordert wird die Freilassung von vier RAF-Mitgliedern, die in Stammheim im Gefängnis sitzen, darunter Andreas Baader und Ulrike Meinhof, sowie 23 weitere Häftlinge der RAF. Die Aktion soll nach dem Vorbild der Lorenz-Entführung ablaufen. Auch diesmal sollen die Inhaftierten ausgeflogen werden an einen Ort ihrer Wahl. Die Geisel, der deutsche Offiziere und Diplomat Andreas Baron von Mirbach soll per Telefon die schwedische Polizei zum Abzug bewegen.
Tote bei Geiselnahme in Stockholm
Doch die Polizei bleibt im Gebäude und der Vater von Zwillingen wird erschossen. Am Abend erschießt das RAF-Kommando eine zweite Geisel: den Wirtschaftsreferenten Heinz Hillegaart. Die Terroristen drohen, jede Stunde eine weitere Geisel zu töten. Kurz vor Mitternacht erschüttert eine Detonation das Gebäude. Die von den Terroristen angebrachte Sprengladung explodiert unkontrolliert. Bei der Flucht aus dem brennenden Haus laufen sei der Polizei direkt in die Arme. Einer von ihnen, Ulrich Wessel, erliegt noch vor Ort seinen schweren Verletzungen. Ein weiteres Kommando-Mitglied, Siegfried Hausner, stirbt nach seiner Auslieferung in Deutschland aufgrund seiner schweren Verletzungen.
Zweieinhalb Jahre später entführen Terroristen der Roten Armee Fraktion Arbeitgeber-Präsident Hanns-Martin Schleyer und ermordeten ihn, als sie einsehen, dass sich der Staat nicht noch einmal erpressen lässt. Die führenden Köpfe der RAF, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, die freigepresst werden sollten, begehen daraufhin Suizid. Irmgard Möller überlebte schwer verletzt.
Die Entführung von Peter Lorenz war der einzige erfolgreiche Versuch der Bewegung 2. Juni, Strafgefangene für eine Geisel auszutauschen. Am 6. Dezember 1987 erliegt Lorenz im Alter von 65 Jahren in seinem Wohnhaus in Zehlendorf einem Herzversagen. Nach Einschätzung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohls war Lorenz nach der Entführung "nie wieder der Alte".

Quellen: ARD, RBB, ZDF, "Berliner Woche", Konrad Adenauer Stiftung, Social History Portal, DPA