Vieles ist im kurzen Leben der elfjährigen Chantal schief gelaufen: Ihre Mutter, eine schwere Alkoholikerin, stirbt 2010 am Suff, ihr leiblicher Vater ist drogenabhängig. Die Pflegefamilie im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, in die das Mädchen 2008 kommt, soll ihm Geborgenheit, einen gefestigten Alltag und eine frohe Zukunft bieten. Doch diese Zukunft währt nicht lange. Am 16. Januar wird Chantal leblos in ihrem Bett gefunden. Eine Obduktion ergibt später, dass die Fünftklässlerin an einer Methadonvergiftung starb.
Eine Überdosis Methadon, wie kann das sein? Ist das nicht die Ersatzdroge, mit der Heroinabhängige ihre Entzugserscheinungen in den Griff bekommen sollen? Tagelang rätseln die Ermittler, wann und wo das Mädchen an das gefährliche Medikament gelangt sein könnte, und haben zunächst den leiblichen Vater in Verdacht, mit dem die Tochter regelmäßigen Kontakt pflegt. Doch er nimmt zwar Ersatzdrogen, aber kein Methadon.
Erst neun Tage nach Chantals Tod kommt bei der zweiten Hausdurchsuchung in der Wohnung der Pflegefamilie ans Licht, was vorher unmöglich schien: Die Pflegeeltern sind heroinabhängig und nehmen seit Jahren an einem Methadonprogramm teil. In der Garage von Wolfgang und Sylvia A. finden die Beamten 31 Tabletten "Methaddict", im Spind am Arbeitsplatz des 51-jährigen Lageristen befindet sich eine weitere Pille. Außerdem beschlagnahmen die Ermittler in der Garage weitere Medikamente und Plastikflaschen, deren flüssiger Inhalt erst noch untersucht werden muss. Noch am Vortag hatte die 47-jährige Pflegemutter gegenüber der "Hamburger Morgenpost" ("Mopo") beteuert, weder Alkohol noch Heroin oder Methadon im Haus zu haben.
Wieso werden Drogensüchtige Pflegeeltern?
Die Frage, die nun im Raum steht: Wie konnte das Jugendamt ehemalige Junkies als Pflegeltern für ein Kind aussuchen? Jede Pflegefamilie muss, glaubt man einer Broschüre, die die Stadt Hamburg zum Thema herausgegeben hat, ein polizeiliches Führungszeugnis und eine Gesundheitserklärung vorlegen. Sozialarbeiter stellen bei Hausbesuchen fest, "ob die häusliche Umgebung zur Aufnahme eines Kindes geeignet ist". Zusätzlich müssen die zukünftigen Pflegeeltern an einem 30-stündigen Vorbereitungsseminar teilnehmen, das mit einem Zertifikat abgeschlossen wird. Ist das Kind erst einmal untergebracht, muss das Jugendamt alle acht Wochen einen Kontrollbesuch abstatten.
Wenn das Jugendamt alle diese Voraussetzungen gewissenhaft geprüft hat, wie konnte ihm dann der Methadonkonsum des Ehepaares verborgen bleiben? Wie konnte Wolfgang A. verschleiern, dass er von 1996 bis 1998 wegen Drogenhandels und eines Raubs im Gefängnis saß? Und nicht zuletzt: Warum befindet man eine Familie als geeignet, die ohnehin nicht über die besten räumlichen und finanziellen Voraussetzungen zur Erziehung eines fremden Kindes verfügt?
Im Haushalt von Familie A. lebten bereits zwei leibliche, zehn und 16 Jahre alte Kinder. Außerdem nahm das Ehepaar auch sein achtjähriges Enkelkind in Pflege, weil die älteste Tochter wegen Drogenproblemen das Sorgerecht verlor. Die Vier-Zimmer-Wohnung der sechsköpfigen Familie im als sozialen Brennpunkt bekannten Wilhelmsburg sei verwahrlost gewesen, berichtet die Staatsanwaltschaft. Alle drei Kinder werden nun vorläufig in einem Kinderhaus betreut.
Eine Behörde unter Druck
Im zuständigen Bezirksamt gibt man sich bedeckt und verweist auf laufende Ermittlungen. Natürlich frage man sich auch, wieso das Jugendamt sich ausgerechnet für diese Familie entschieden habe, sagt ein Sprecher zu stern.de. Bezirkschef Markus Schreiber (SPD) gestand am Donnerstag gegenüber dem NDR erstmals Fehler ein und kündigte eine "lückenlose Aufklärung" an. Äußern werde man sich aber erst Anfang kommender Woche, wenn erste Erkenntnisse vorlägen.
Bis es so weit ist, haben die Ermittler noch viel zu tun. Sie müssen noch immer klären, wie Chantal an das Methadon kam, ob sie es tatsächlich in Tabletten- oder doch in Tropfenform nahm, und was es mit den übrigen Flüssigkeiten aus der Garage auf sich hat. Bisher sind Wolfgang und Sylvia A., gegen die wegen fahrlässiger Tötung ermittelt wird, noch auf freiem Fuß. Auf die zuständigen Behörden, so viel ist in jedem Fall sicher, wirft der Fall kein gutes Licht.