Es ist der 5. April 2010. Im Dunst der tropischen Hitze nimmt Dierk Eggers das kleine Holzschiff, das da rund acht Meilen von ihm entfernt auf den Wellen schaukelt, kaum wahr. Der Kapitän der "Taipan" hält es zunächst für ein Fischerboot, das seinem Frachter etwas nah gekommen ist. Hier, rund 530 Seemeilen vor der somalischen Küste nichts Ungewöhnliches. Doch dann geht alles ganz schnell. Plötzlich rasen zwei Motorboote direkt auf die "Taipan" zu. Ein Piratenangriff, dem die Besatzung des Hamburger Containerschiffes nur mit "schicksalhaftem Glück" entkommt. So jedenfalls schildert es Dierk Eggers heute am Hamburger Landgericht. Im Seeräuberprozess steht der 69-Jährige den zehn Männern gegenüber, die ihn und seine Besatzung damals überfielen. Sie sind wegen erpresserischen Menschenraubs und gefährlichen Eingriffs in den Seeverkehr angeklagt, und das Gericht will von Eggers wissen, was genau geschah am Ostermontag, als die 15-Mann-Besatzung der "Taipan" um ihr Leben fürchten musste.
Doch als der Kapitän Saal 337 betritt, ist von Feindseligkeit nichts zu spüren. Stattdessen grüßt Eggers freundlich in die Riege der Angeklagten. "Ich hatte keine Furcht und habe auch keinen Hass", sagt er und: "Piraterie gibt es seit Jahrzehnten. Das ist einfach Teil meines Berufes." Die Stimme des Kapitäns ist leise aber bestimmt. Und dann erzählt er bildreich, wie er die Besatzung alarmiert, als die Motorboote ohne Stopp auf die "Taipan" zurasen. Wie er eine Leuchtrakete in ihre Richtung abfeuert, um zu signalisieren, dass sie entdeckt seien. Und wie die Piraten daraufhin das Feuer eröffnen und ein Kugelhagel auf die Brücke des Frachters prasselt. Die Piraten haben Waffen dabei, fünf vollautomatische Gewehre, Kaliber 7,62 mm. Zwei russische Panzerfäuste und Enterhaken. Gegen ihre zwei wendigen Motorboote hat die schwerfällige "Taipan" keine Chance.
Stunden der Angst
"Da blieb uns nur der Rückzug", berichtet Eggers. Er und seine Männer flüchten sich in einen Maschinenraum. Vorher habe er allerdings noch Hilferufe über das Satellitentelefon und per E-Mail abgegeben. "Hätten sie uns in ihre Gewalt gebracht, wir hätten keine Hilfe mehr holen können." Doch die Besatzung behält die Nerven. Um das Schiff manövrierunfähig zu machen, schaltet sie den Strom ab. In der Stille der ruhenden Bordmotoren sei nur ein "erschreckender Radau" zu hören gewesen. Als der Hubschrauber des niederländischen Marinekommandos landet, vernehmen die Eingeschlossenen einen Schusswechsel. Erst Stunden später trauen sich die Männer aus ihrem Versteck. Niemand ist verletzt.
Eggers ist ein erfahrener Kapitän. Dennoch schreibt der 69-Jährige die Errettung aus der Hand somalischer Piraten "schicksalhaftem Glück" zu. Befreit werden sie von einem niederländischen Marinekommando, das die Piraten an Bord festnimmt. Zwei Monate später, im Juni, werden die Somalier von den Niederlanden an Deutschland ausgeliefert. Und nun sitzen sie auf der Anklagebank und passen so gar nicht zum Piraten-Klischee. Schmale unscheinbare Gestalten, die zusammengesunken zwischen ihren Anwälten und Dolmetschern sitzen und fast ängstlich wirken. Bei einer Verurteilung drohen ihnen Höchststrafen von bis zu 15 Jahren Haft. Doch zumindest bei einem von ihnen bestehen Zweifel, ob er überhaupt angeklagt werden kann. Denn er behauptet, erst 13 Jahre alt zu sein. Ein Kind also. Darf das Gericht da überhaupt urteilen? In einem Gutachten halten die Experten zur Altersbestimmung den mutmaßlichen Seeräuber für mindestens 15. Ein anderer Gutachter sagt vor Gericht, er halte den Jungen sogar für mindestens 18 Jahre alt.
"Ich liebe Afrika"
In einer gemeinsamen Stellungnahme machten die Verteidiger auf die spezielle Situation der Angeklagten in Somalia aufmerksam. Der ostafrikanische Staat sei durch Hunger, fehlende medizinische Versorgung und Terror gezeichnet. "Das somalische Volk leidet; eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht nicht." Auch einige Demonstranten machten schon am ersten verhandlungstag vor dem Gerichtsgebäude auf die Situation aufmerksam. Mit Spruchbändern und Flugblättern protestierten sie gegen die "neokoloniale Ausbeutung Afrikas".
Juristische Auseinandersetzungen, die den Prozess bestimmen und in die Länge ziehen. Bis März soll das verfahren dauern. Dierk Eggers jedenfalls hat schon seine Aussage gemacht. Auch bei seinem Abgang zeigt er sich versöhnlich: "Ich liebe Afrika, und ich liebe Somalia nach wie vor."