Die 33-jährige Olga K. hatte keine Chance. Sie ist am Abend des 23. März mit ihrer Familie auf der Rückfahrt von einem Urlaub an der Küste, als am Ostersonntag von einer Autobahnbrücke über die A 29 bei Oldenburg ein sechs Kilo schwerer Holzklotz durch die Windschutzscheibe des Autos schlägt. Auf dem Beifahrersitz wird Olga K. vor den Augen ihres Mannes und ihrer beiden kleinen Kinder von dem Geschoss getötet. Unter großen Sicherheitsmaßnahmen hat am Dienstag vor dem Landgericht Oldenburg (Niedersachsen) der mit Spannung erwartete Indizienprozess gegen den mutmaßlichen Täter Nicolai H. begonnen.
Die Verhandlung wurde allerdings direkt nach Beginn zunächst unterbrochen: Die Verteidiger des Angeklagten beantragten unter anderem, zunächst ein ärztliches Gutachten zur Verhandlungsfähigkeit des 30 Jahre alten Drogensüchtigen zu lesen, das sie erst kurz vor der Verhandlung erreicht habe.
Wochenlang hielt der tragische Fall damals die Menschen in ganz Deutschland in Atem. Denn die akribische Ermittlungsarbeit nach dem Täter bleibt zunächst ohne Erfolg. Ein Phantombild mit schemenhaft gezeichneten Jugendlichen führt ins Leere. Weil die Polizei ohne Absprache mit der zuständigen Staatsanwaltschaft öffentlich die Möglichkeit eines Massengentests in Betracht zieht, kommt es sogar zum Eklat zwischen den Ermittlern. "Es ist höchste Zeit, dass die Polizei von weiteren Eigenmächtigkeiten Abstand nimmt und zur eigentlich selbstverständlichen vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der für das Verfahren verantwortlichen Staatsanwaltschaft Oldenburg zurückkehrt", attackiert die Generalstaatsanwaltschaft die Polizei.
Die Chronologie des Falles
23. März 2008
Von einer Brücke über die Autobahn 29 wird ein sechs Kilo schwerer Holzklotz auf ein Auto geworfen. Der Brocken durchschlägt die Windschutzscheibe und tötet auf dem Beifahrersitz eine 33 Jahre alte Mutter vor den Augen ihrer beiden Kinder und ihres Ehemannes. Die Familie aus Telgte bei Münster war auf dem Heimweg vom Osterurlaub.
26. März
Nach der tödlichen Attacke prüft die Polizei rund 400 Personalien. Befragt werden vor allem Besucher nahe gelegener Osterfeuer.
27. März
Die 33 Jahre alte Mutter wird im Kreis von Angehörigen und Freunden in Telgte beigesetzt.
1. April
Nach Zeugenangaben veröffentlicht die 23-köpfige Sonderkommission ein Phantombild. Gesucht wird eine vier- bis fünfköpfige Gruppe junger Leute im Alter zwischen 16 und 20 Jahren.
11. April
Die Generalstaatsanwaltschaft kritisiert die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei scharf. Sie sei zum Teil schädlich für einen Ermittlungserfolg.
21. Mai
Polizei und Staatsanwaltschaft geben bekannt, dass sie einen Tatverdächtigen aus Rastede bei Oldenburg ermittelt haben.
9. Juni
Der drogenabhängige Beschuldigte widerruft sein Geständnis. Nach Angaben seiner Verteidiger wurde ihm erst nach seiner Aussage die Ersatzdroge Methadon gegeben.
16. Juli
Die Staatsanwaltschaft Oldenburg erhebt Anklage gegen den 30 Jahre alten Tatverdächtigen aus Rastede wegen Mordes und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr.
29. September
Das Landgericht Oldenburg bestätigt, dass dem Beschuldigten vom 4. November an der Prozess gemacht wird. Für das Indizienverfahren werden zunächst 16 Verhandlungstage bis Ende 2009 angesetzt.
Gut acht Wochen nach dem Verbrechen gelingt den Fahndern dann doch der vermeintliche Durchbruch. Sie nehmen einen 30 Jahre alten Drogensüchtigen aus Rastede bei Oldenburg fest. Der vorbestrafte Nikolai H. hatte in der Nähe des Tatorts gewohnt und sich im April als Zeuge gemeldet. Er sagte laut Polizeiangaben aus, er sei unterwegs zu seinem Dealer gewesen, als er den Holzklotz entdeckt habe. Er habe ihn an das Brückengeländer gelehnt und sei weitergefahren. Deshalb seien seine Fingerabdrücke darauf. Diese waren bei der Polizei registriert, weil er vorbestraft ist.
Indizien, aber keine Zeugen
Die Polizei hatte allerdings Zweifel an der Aussage und ermittelte weiter. Auf dem Grundstück des in einem Einfamilienhaus allein lebenden Mannes entdeckten sie ähnliche Holzklötze. Das Landeskriminalamt fand zudem heraus, dass an dem Holzstück klebender Sand sehr wahrscheinlich von dem Grundstück stammt. Daraufhin wurde H. Ende Mai verhaftet. Gegen den Mann, der im Alter von 16 Jahren aus Kasachstan nach Deutschland kam, liegen den Ermittlern zufolge eine Reihe von Indizien vor. "Soweit es bislang bekannt ist, gibt es keinen direkten Tatzeugen", sagt der Sprecher des Landgerichts, Mario von Häfen.
Der Vorwurf der Anklage: heimtückischer Mord mit gemeingefährlichen Mitteln. Zunächst gesteht der 30-Jährige das Verbrechen auch. "Allgemeiner Frust" habe ihn zu der Tat getrieben, gibt er zu Protokoll. Wenig später widerruft er das Geständnis. Nach Angaben der Verteidiger wurde dem Rauschgiftsüchtigen erst nach der Vernehmung die Ersatzdroge Methadon gegeben. "Falsche Geständnisse und Widerrufe kommen nicht selten vor", sagt sein Anwalt Matthias Koch. Das werde man nun prüfen müssen.
Kinder psychologisch betreut
In der Familie, deren Glück in Bruchteilen einer Sekunde zerstört wurde, ist unterdessen so weit wie möglich der Alltag wieder eingekehrt. "Der Ehemann arbeitet längst wieder, die Kinder gehen auch schon lange wieder zur Schule. Die Kinder werden aber nach wie vor psychologisch betreut", sagte der Schwager der Getöteten der "Nordwest-Zeitung". Die Kinder redeten von ihrer Mama und auch über das Unglück. Auch wenn die Familie ein großer Rückhalt für die Kleinen sei, "die nächsten Tage und Wochen werden aber auch für die Kinder schwer".
Schwer wiegt auch die jüngste Entwicklung in dem Fall. Wegen Morddrohungen gegen den Angeklagten wird es in dem Prozess verschärfte Sicherheitsmaßnahmen geben. "Wir haben Briefe bekommen und auch Anrufe. Es gibt laufende Ermittlungen gegen unbekannt", sagt Koch. Deswegen sollen die Zuhörer durchsucht werden. Metalldetektoren, eine eigens in Bonn geliehene durchsichtige Trennwand, zusätzliche Wachtmeister und auch Polizeihunde sollen nach Angaben des Gerichts die Sicherheit in einem der spektakulärsten Prozesse vor dem Landgericht Oldenburg in den vergangenen Jahren garantieren.
Weitere Termine freigehalten
"Bis Anfang Dezember sind 13 Zeugen und ein Sachverständiger geladen. Dann hat die Kammer in Aussicht gestellt, dass möglicherweise 30 weitere Zeugen gehört werden sollen", umschreibt von Häfen den Umfang der Verfahrens. Unter den Zeugen ist auch ein Mithäftling, dem Nikolai H. die Tat ebenfalls gestanden haben soll. 16 Verhandlungstage sind terminiert, vorsichtshalber wurden aber bereits weitere Termine freigehalten. "Es kann schnell gehen, aber auch eine ganze Weile dauern."