Leicht bergab führt die Straße, an der Straßenbahnlinie entlang, quer durch den kleinen Stuttgarter Vorort Stammheim. Vorbei geht es an Ein- und Mehrfamilienhäusern, einer Sparkasse, mehreren Metzgereien und schwäbischen Gaststuben, die neuen Wein und Pfifferlingsgerichte anbieten. Plötzlich endet die Bebauung neben der Straße, die in einen Kreisverkehr mündet. Wuchtige, meterhohe graue Mauern bauen sich auf, schwere Eisentüren schließen sich hinter einem Auto. Der Blick fällt auf ein langgestrecktes siebenstöckiges Hochhaus auf der linken Flanke des Areals. Dreckig helle Fassade, Gitter vor den Fenstern, Netze auf dem Dach. Auf der gegenüberliegenden Seite hat die aufgehende Sonne gerade ein flaches, gräuliches Gebäude erfasst. Eine Turnhalle? Nein, das Oberlandesgericht Stuttgart.
Es ist der Eingang zum wohl berühmtesten Gerichtssaal Deutschlands, der auf dem Gelände des wohl bekanntesten Gefängnisses der Republik liegt, der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim. In dem Hochhaus saß und starb in den 70er-Jahren die RAF-Elite um Andreas Baader und Ulrike Meinhof. In dem 1975 erbauten Mehrzweckgebäude wurde ihnen der Prozess gemacht. Mehr als 30 Jahre später steht eine alte Glaubens- und Waffengefährtin von Baader und Co. hier vor Gericht. Verena Becker, angeklagt der Mittäterschaft am Mordanschlag auf den damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine zwei Begleiter. Das Tatjahr: 1977.
Charme und Schrecken der alten BRD
1977 hat die Deutsche Bundesbahn ihre letzte Dampflokomotive ausgemustert und Muhammed Ali zwei Weltmeistertitel gewonnen. Es war aber auch die Zeit des blutigen RAF-Terrors, der Staat befand sich in höchstem Alarmzustand. In diese angespannte Zeit fühlt man sich zurückversetzt, wenn man die strengen Sicherheitskontrollen am Eingang des Gerichtsgebäudes durchläuft. Durch eine erste blaue Drehtür geht es zur Leibesvisitation. Ein vergilbter Zettel an der Wand erklärt den Grund: "Die Durchsuchung erstreckt sich auf Waffen im technischen und nichttechnischen Sinne, sowie auf Gegenstände, von denen zu befürchten ist, dass sie zur Störung der Hauptverhandlung bestimmt sind." Hinter einer weiteren blauen Drehtür erstreckt sich dann der Vorraum des eigentlichen Gerichtssaals.
Ein Museum. Auf den Tischchen der Pressekabinen in der Mitte der Halle stehen hell beige Telefone mit Drehwählscheibe. Daneben sind zwei Münztelefone aufgestellt. "Minimum 0,30 DM" steht auf dem Schild, "keine Telegramme". Die Leitungen sind tot. Lebensfeindlich wirkt auch der Rest des weitläufigen Raumes mit seinem rissigen Steinboden, den rostigen Gasleitungen, den defekten Lampen. Selbst die orangenen Plastikstühle schaffen es nicht, dem Ort Leben einzuhauchen.
Dieselben Plastikschalen - Originale aus den 70er Jahren - dienen auch im Gerichtssaal den Journalisten und Pressevertretern als Sitzgelegenheit. Die Prozessbeteiligten dürfen auch an der ursprünglichen Einrichtung Platz nehmen. Rechts die aus vielen TV-Dokumentationen über die RAF-Verfahren bekannt gewordenen Anklagebänke, drei Reihen weißer, nach oben hin erhöhter Tische. Links die ähnlich gebauten Anklagebänke, dazwischen der wuchtige Richtertisch. An der Wand hinter den Richtern prangt das Wappen Baden-Württembergs, auf dem Regal darunter stehen mehrere dutzend Aktenordner.
Von der Terroristin zur Hartz-IV-Empfängerin
Eine Szenerie, die nur wenigen Menschen so vertraut sein dürfte wie Verena Becker. 1977 war sie wegen der Schüsse auf Polizeibeamte in genau diesem Gerichtssaal wegen versuchten Mordes verurteilt worden. Laut brüllend hatte sie damals auf das Urteil des "Schweinesystems" reagiert. 33 Jahre später tritt sie als 58-jährige Frührentnerin und Hartz-IV-Empfängerin wieder vor die Vertreter dieses Systems. Eine zierliche kleine Frau mit kurzen dunklen Haaren und großer Sonnenbrille setzt sich neben ihre beiden Anwälte. Sie stellt eine Plastikwasserflasche vor sich auf den Tisch, zupft an ihrem cremefarbenen Rollkragenpullover und lässt ihren Blick durch den Saal schweifen. Dann nimmt sie die Sonnenbrille ab, schmale Augen, schmaler Mund. Ihr direkt gegenüber, rund 40 Meter entfernt, beobacht ein Mann jede Bewegung der Frau. Michael Buback, Sohn des getöteten Generalbundesanwalts, ist neben seiner Mutter und seinem Onkel Nebenkläger in diesem Prozess. Was muss es für diesen Mann bedeuten, endlich der Person gegenüber zu sitzen, die seiner Meinung nach seinen Vater getötet hat? "Die Gefühlslage ist sehr gemischt", wird er sagen, "eine Beklemmung ist in diesem Raum zu spüren, doch wir wollen die Wahrheit erfahren".
"Frau Becker", sagt der Vorsitzende Richter, "nennen sie uns bitte ihren Vornamen". Die Angesprochene zieht das Mikrofon zu sich. "Verena", sagt sie mit fester Stimme. "Wann sind sie geboren?" – "31. Juli 1952" – "Wo?" – "In Berlin" – "Familienstand?". Pause. Verena Becker lehnt sich zu ihrem Anwalt Walter Venedey, dann sagt sie leicht lächelnd. "Also, ledig."
Es werden die letzten Worte von Verena Becker an diesem ersten Verhandlungstag bleiben. Seine Mandantin werde sich vorerst weder zu den Vorwürfen noch zu ihrer Person äußern, kündigt Anwalt Venedey an. Aufmerksam und ruhig verfolgt Becker dann die Verlesung der Anklage, hört zu, wie ihr Leben in Kurzform dargestellt wird. Als Tochter eines Bergbautechnikers ist sie mit neun Geschwistern aufgewachsen. Auf Realschule und Gelegenheitsjobs folgt Anfang der 70er-Jahre die Radikalisierung. Sie wirft Scheiben von Sexshops ein und schließt sich der Terrorgruppe "Bewegung 2. Juni" an. Sie beteiligt sich an einem Bombenanschlag, bei dem ein Mensch ums Leben kommt. 1974 wird sie deshalb zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt. Schon ein Jahr später wird Becker freigepresst und flieht in den Jemen. In einem Militärlager trainiert sie den Kampf mit Waffen und lernt Mitglieder der RAF kennen. Dort entsteht laut Anklage der Beschluss, Buback zu töten. Verena Becker soll eine treibende Kraft hinter dem Plan gewesen sein, der 1977 umgesetzt wird. Verena Becker wird wenig später auf der Flucht festgenommen, wegen der Schüsse auf Beamte zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Verfahren gegen sie wegen des Buback-Mordes wird eingestellt, drei andere RAF-Mitstreiter müssen dafür büßen. 1989 wird Verena Becker vom Bundespräsidenten begnadigt, macht eine Ausbildung als Heilpraktikerin und lebt nun im Haus ihrer Schwester.
Verbrechensbewältigung mit Orakelwissenschaften
Hinweise, in welcher gedanklichen Welt sie mittlerweile lebt, geben Äußerungen, die Verena Becker nach ihrer erneuten Verhaftung vor rund einem Jahr machte. Vor Gericht wurden sie nun vorgelesen: Den "spirituellen Weg" sei sie gegangen, um herauszufinden, "wie mein Leben verlaufen ist". Mit chinesischer Medizin und Orakelwissenschaften beschäftige sie sich intensiv. Sie habe auch einen Brief an Michael Buback geschrieben, diesen aber nicht abgeschickt, da er "nicht stimmig" sei. Aber, so Becker, der "Konflikt" zwischen ihr und dem Sohn des getöteten Bundesanwalts gelte es "auf spirituellem Weg zu lösen". Während der Verlesung dieser Aussagen scheint es Michael Buback nicht mehr möglich zu sein, Verena Becker anzusehen. Mit abgewandtem Gesicht und spürbar angewidert hört er zu. Verena Becker wiederum lässt ihren Blick immer wieder interessiert durch den Gerichtsaal wandern.
Unterdessen scheinen vor dem Gerichtsaal Anhänger der ehemaligen RAF-Terroristin zugange gewesen zu sein. Zwei identische Plakate hängen am Zaun. Unter dem bekannten Symbol der RAF, dem roten Stern mit der Maschinenpistole, steht: "Nulla e finito, nichts ist vorbei. Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen". Zu einer Kranzniederlegung wird aufgerufen, am Grab der toten RAF-Kämpfer Baader, Meinhof und anderen. Das Grab liegt auf der anderen Seite der Stadt. Man muss wieder die Straße entlang, quer durch Stuttgart-Stammheim.