Bevor Hans M.* das Neuruppiner Landgericht betritt, zieht der kleine Mann mit den grauen Stoppelhaaren und dem energischen Kinn seine Baseballkappe ins Gesicht. Dann klappt er eine gelbe Mappe aus Pappe auseinander und hält sie vor sich - sie ist sein Schutzschild vor den Fotografen, vor der Öffentlichkeit. So präpariert wird er von Familie M. in die Mitte genommen, jedenfalls von dem Teil, der noch zu ihm hält. Dieser Teil besteht aus seiner Ehefrau, seinem Sohn und drei seiner sechs Töchter. Seitdem seine Stieftochter Karin L.* und deren Tochter Claudia sich vor einem Jahr an die Polizei wandten, geht durch die Familie ein tiefer Riss.
Die beiden zierlichen Frauen erheben vor Gericht schwere Vorwürfe gegen den 67-jährigen Pensionär. Jahrelang habe ihr Stiefvater sie vergewaltigt, so Karin L.. Das erste Mal passierte es demnach am Tag vor ihrer Einschulung, im Ehebett. Bei der Einschulungsfeier sei ihr Blick auf die Väter der anderen Mädchen gefallen und sie habe sich gefragt, ob ihre Mitschülerinnen das auch machen müssen, erzählt die 41-jährige Altenpflegerin dem Gericht. Von ihrem Stiefvater hörte sie, das sei normal, dennoch dürfe sie keinem davon erzählen. Die Siebenjährige glaubte ihm, so wie Siebenjährige ihren Eltern eben glauben.
Er soll sie jeden Tag vergewaltigt haben
Die Aussagen von Karin L. beschreiben eine Horrorgeschichte. Fast jeden Tag habe er sie vergewaltigt: Im Keller, im Bett, im Wald, wenn sie gemeinsam mit dem Hund Gassi gingen. Als sie älter wurde und sich zur Wehr setzen wollte, habe ihr Stiefvater sie geschlagen. Er habe sie, berichtet sie, von ihren Freunden isoliert, damit sie niemandem etwas würde erzählen können. Heimlich liebte sie einen Jungen, zweimal hatten sie Sex. Als sie 1986 mit 18 Jahren schwanger wurde, glaubte sie, das Kind sei von ihm. Doch die Eltern ihres Freundes verlangten einen Vaterschaftstest, der die grausame Wahrheit ans Licht brachte: Ihre Tochter Claudia ist das Kind von Hans M..
Als Karin L. von diesem Ergebnis erfuhr, brach für sie eine Welt zusammen. "Von da an konnte ich mein Kind nicht mehr lieben, ich habe es gehasst", sagt sie im Gerichtssaal. Jeden Tag sei sie beim Anblick ihrer Tochter an die schrecklichen Ereignisse erinnert worden. Sie habe das Kind nicht in den Arm nehmen können, statt Liebe bekam es Prügel. Als Karin L. das erzählt, fließen bei ihrer Tochter Claudia die Tränen. Für die stupsnasige, kindlich wirkende 21-Jährige, die bislang keinen Beruf erlernt hat, aber von einer Arbeit als Kindergärtnerin träumt, ist der Prozess vor dem Landgericht Neuruppin der Versuch, mit ihrer Vergangenheit abzurechnen. Als Nebenklägerin will sie endlich das Schweigen über ein bedrückendes Geheimnis beenden, das zehn Jahre in der Familie gehütet wurde.
Angeblich vergewaltigte er auch die Tochter
1994 soll Hans M. nämlich ein neues Opfer gefunden haben: Sieben Jahre alt ist das Kind damals und gerade eingeschult worden. Es ist seine Tochter Claudia. Mit den Worten "Ich zeig dir Glitzerfische!", sei er mit ihr in den Keller gegangen. Dort bewahrte der Hobbyangler seine Plastikköder auf, mit denen sie gern spielte. Er habe die Tür abgeschlossen, den Plattenspieler angestellt und sie auf einen braunen Tisch gesetzt. Angst mischte sich mit Scham. Der Anblick der grellen Neonlampe über ihr, das weiße Einschulungskleid mit den rosa Rosenblüten, das sie damals trug und das sie später vor Ekel in eine Grube geworfen und mit Blättern verdeckt haben will, diese Bilder haben sich bei Claudia eingebrannt. Auch an die Wiederholung des Schrecklichen am nächsten Tag erinnert sich die junge Frau noch 14 Jahre später. Insgesamt 19 Vergewaltigungen im Keller, in ihrem Kinderzimmer, im Zelt bei einem Angelausflug, am Arbeitsplatz und im Schlafzimmer des Angeklagten sowie auf dem Autorücksitz auf dem Weg zum Einkaufen kann Claudia L. detailliert beschreiben. 19 Fälle aus drei Jahren, in denen sie fast täglich, an manchen Tagen auch zweimal missbraucht worden sei. Die Anklage basiert allein auf diesen Vorwürfen - der Missbrauch an Karin L. ist bereits verjährt.
"Hab' ich's mir doch gleich gedacht!"
Drei Jahre später hätten die Vergewaltigungen durch den Mann, den sie für ihren Opa hielt, ein schreckliches, aber endgültiges Ende erfahren, berichtet Claudia L.. An diesem Tag sei sie mit verstörter Miene ihrer Oma Martina M. in die Arme gelaufen. Die habe von ihrer Enkelin wissen wollen, was sie bedrücke. Die Offenbarung der Elfjährigen soll die Oma mit einem "Hab ich's mir doch gleich gedacht!" kommentiert haben. Dieser Satz elektrisierte Claudia L., die in diesem Moment erkannt habe, "dass die Oma es gewusst und dennoch nichts unternommen hat", sagt ihr Rechtsanwalt Peter Supranowitz.
Doch die emotionale Achterbahnfahrt sei für die Elfjährige an diesem Novembertag 1997 noch nicht beendet gewesen, so der Anwalt. Die Oma rief Claudias Mutter zu sich, um sie mit den Neuigkeiten zu konfrontieren. "Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass er sich an seiner eigenen Tochter vergreift", sagt Karin L. vor Gericht. Auch sei ihr damals das Schicksal ihres ungeliebten Kindes ziemlich egal gewesen. Emotional aufwühlend, wie die Situation gewesen sein muss, dachte sie sicherlich auch nicht an die Wirkung ihrer Worte, mit denen sie ihre Tochter bei dieser Gelegenheit schockierte. Sie erzählte dem Mädchen, das bis dato annahm, der Mann ihrer Mutter sei auch ihr Vater, die Wahrheit über ihre Zeugung. Das war zuviel für Claudia L., die kurz darauf in die Psychiatrie eingewiesen wurde und dort vier Monate verbrachte.
Mutter und Tochter entschlossen sich zur Anzeige
Den behandelnden Ärzten blieb das Drama nicht verborgen. Als sie das Kind im März 1998 aus den Ruppiner Kliniken entließen, informierten sie das Jugendamt. Dort hat man zehn Jahre nach dem flüchtigen Kontakt mit der Familie M. Schwierigkeiten, sich an den Fall zu erinnern. Christian Gilde, Landrat des Kreises Ostprignitz-Ruppin, konnte zwar die zuständige Mitarbeiterin ausfindig machen, doch diese verwies lediglich auf die Akte, in der sich nur die Mitteilung der Klinik über den sexuellen Missbrauch befindet und die Notiz: "Mutter und Großmutter sehr aggressiv. Keine Anzeige."
Rechtlich sind die Jugendämter zu diesem Schritt nicht verpflichtet. "Diese Entscheidung ist für die Mitarbeiter des Jugendamtes knochenhart", sagt der SPD-Landrat. Sie werde darum auch nur im Team getroffen. Stets müsse im Sinne des betroffenen Kindes geprüft werden, wie wahrscheinlich eine Verurteilung ist und was geschieht, wenn sich die Vorwürfe vor Gericht nicht beweisen lassen. Die Angehörigen von Claudia L. hätten damals beteuert, nichts mitbekommen zu haben und keine Hilfe gewünscht. So wurde der Fall zu den Akten gelegt.
Die Einweisung in die Psychiatrie habe Claudia L. damals als Strafe empfunden. Man habe ihr nicht geholfen, stattdessen fühlte sie sich weggesperrt, sagt sie vor Gericht. Nach ihrer Rückkehr in die Familie blieb das Thema tabu, bis sich Mutter und Tochter im Sommer 2007 zur Anzeige entschlossen. Seitdem würden sich die beiden auch emotional einander nähern, meint die junge Frau.
Der Angeklagte bestreitet die Behauptungen
Dies ist die dramatische Geschichte, wie sie Mutter und Tochter vortragen, wie sie auch die zwei Jahre jüngere Schwester der Mutter stützt: Auch an ihr habe der Vater im Keller einen Übergriff gewagt, sagt Birgit M. dem Richter. Doch im Gegensatz zu ihrer Schwester war sie bereits 15 Jahre alt. Sie stieß den Vater beiseite, floh aus dem Keller und fuhr zu ihrer Mutter, der sie brühwarm das Vorgefallene im Beisein ihrer Kollegen berichtet habe, sagt die Zeugin. Doch von Martina M. bekam sie keine Hilfe, dies sei auch der Grund für ihr zerrüttetes Verhältnis zur Familie. Auch bei einer weiteren Tochter soll es Hans M. probiert haben, so vermuten es jedenfalls Karin und Claudia L. Doch diese Tochter gehört zu dem Teil der Familie, der sämtliche Anschuldigungen bestreitet. "Claudia lügt", lautet das Credo dieser Fraktion.
Es gab keine Vergewaltigungen, weder bei Claudia, noch bei Karin, sagt der Angeklagte. Seine Frau bestätigt mit einem endlosen Wortschwall diese Version vor Gericht. Äußerst selbstbewusst wirkt die kleine Frau mit der mädchenhaften Pony-Pferdeschwanz-Frisur, durch die sich graue Strähnen ziehen - eine Frau, die austeilen kann. Es gab nur ein Liebesverhältnis zwischen ihrer Tochter und ihrem Mann, beteuert die 60-jährige ehemalige Angestellte, die während ihrer Zeugenaussage immer wieder Beifall heischend zu ihrem Mann blickt. Die Initiative dazu sei von der damals 15-jährigen Karin ausgegangen. Hans M. habe sogar seine Frau verlassen und seine Stieftochter heiraten wollen.
Angebliche Liebesbriefe der Tochter
Zum Beweis legt die Verteidigung vier Liebesbriefe vor, die angeblich von Karin L. an ihren Stiefvater geschrieben wurden. Doch als die vermeintliche Verfasserin sich die Beweismittel genauer anschaut, bekundet sie bei allen Briefen: "Die sind nicht von mir!" Bei Brief Nr. 3 ruft sie gar: "Das ist die Handschrift meiner Mutter!" Karin L. behauptet zudem, dies sei nicht das erste Mal gewesen, dass Martina M. auf dem Papier in die Person ihrer Tochter geschlüpft sei: Auch Karins erstem Freund soll sie auf diese Weise den Laufpass gegeben haben, behauptet die Tochter vor Gericht.
Der Vorsitzende Richter Gert Wegner will von der Frau des Angeklagten wissen, warum ihre Tochter und ihre Enkelin so heftige Vorwürfe gegen Hans M. erheben würden? "Das ist durch den Hund gekommen", antwortet sie. Das Tier habe ihrer jüngsten Tochter gehört, die keine Hundesteuer entrichtet habe. Karin L. habe dies beim Ordnungsamt angezeigt. Vorher habe die Familie zusammengehalten. "Bis zu dem Tag mit der Hundesteuer, da war das vorbei."
Widersprüche in den Aussagen der Opfer
Hans M.s Verteidiger Uwe Meyer kämpft für seinen Mandanten, dem bis zu 15 Jahre Haft drohen, indem er die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugen zu erschüttern versucht. Es ist die typische Strategie in solchen Prozessen. Jedem Widerspruch in den Aussagen der Nebenklägerin geht Meyer nach, manchmal wird er fündig. So ist das Kleid, welches Claudia weggeschmissen haben will, noch immer im Familienbesitz. An anderer Stelle hatte die junge Frau ihren Anwälten eine Tat beschrieben, bei welcher Hans M. auf ihr gelegen und ungeschützten Verkehr ausgeübt haben sollte. Im Gerichtssaal schildert sie diese Einzelheiten jedoch anders.
Meyer fordert nun die Erstellung von Gutachten: Eine graphologische Expertise, um zu beweisen, dass Karin L. per Drohbrief ihren Eltern angekündigt habe, sie fertig machen zu wollen. Außerdem verlangt er ein Glaubwürdigkeitsgutachten über Claudia L.. Sollte das Gericht letzterem stattgeben, wird der Prozess noch einmal von vorn beginnen müssen, meint Peter Supranowitz. Ein psychiatrisches Gutachten lasse sich in den maximal 21 Tagen, die das Gericht eine Verhandlung unterbrechen kann, nicht erstellen. Derzeit ist die Verkündung des Urteils über Hans M. für den 18. November geplant.
* Namen von der Redaktion geändert