Es sind viele Gefühle, die über eine Mutter hereinbrechen, deren Kind am Nachmittag das Haus verlässt, um mit Freunden in der Stadt einen Kaffee zu trinken und am Abend als Zeugin eines Terroranschlags zurückkommt. Ich bin eine solche Mutter. Ich bin wütend und fassungslos. Traurig und verunsichert. Überfordert.
Meine Tochter Felicitas ist eine 16-jährige junge Frau, die vor dem Lockdown noch einmal mit Lili, Paul und Kilian zusammen sitzen wollte. Lachend, unbeschwert. Die letzten Stunden genießen als wäre nichts, bevor der Vorhang zugezogen wird, bevor alle Lokale bis Ende November schließen müssen. Der Abend lau wie im Spätsommer. Ohne Jacke draußen sitzen. Ohne schlechtes Gefühl vor einer Ansteckung. Junge fröhliche Leute. Jeder Platz besetzt. Über ihren Köpfen die Heizstrahler. Ausgeschaltet. So warm ist es.
Eigentlich bin ich dagegen, dass sie in die Stadt fährt. War doch erst am Samstag so lange aus. Andererseits - sie ist dann lange genug eingesperrt.
- Also, na gut - geh!
- Nein, wir umarmen uns nicht. Ja, wir achten auf den Abstand. Nein, wir bleiben im Freien.
Sie verspricht es mir.
- Viel Spaß. Sei um 21 Uhr zurück.
Ich bringe sie zur U-Bahnstation. Sie lässt mir ihre Jacke da. So warm ist es. Wir drücken uns kurz an der roten Ampel. Sie wirft die Türe hinter sich zu, ich schaue ihr nach, wie sie in der U-Bahnstation verschwindet. Ihr Parfum hängt noch lange bei mir im Auto.
- Schade, wir hätten auch noch einmal essen gehen sollen.
Mein Mann hat Sushi in Styroporboxen mitgebracht. Ich schenke uns zwei Gläser Sturm ein. Die Küchenfenster sind geöffnet. So warm ist es.
Feli ruft an. Das Handy liegt auf dem Tisch und vibriert.
-Sag ihr, dass sie nicht später kommen darf. Wir haben neun Uhr ausgemacht. Immer dasselbe.
Ich ärgere mich. Mein Mann hebt ab. Er sagt nicht viel.
- Okay, Schatzi, setz dich ins Taxi und komm zu uns nach Hause. Alles wird gut.
Er legt das Handy zurück auf den Tisch. Ich schaue ihn erwartungsvoll an.
- In der Stadt gab es eine Schießerei, Feli ist mit Lili weggelaufen, sie steigt jetzt ins Taxi. Sie sagt, es könnte ein Terroranschlag sein.
Ich lache. Ein Terroranschlag. Die Fantasie meiner Tochter war schon immer blühend. Wahrscheinlich ein Feuerwerk. Knallfrösche. Irgendsowas.
Meine Freundin schickt eine Sprach-Nachricht. Ihre Stimme klingt ängstlich. Sie wohnt in der Stadt.
- Polizeieinsatz . Schüsse. Es ist schrecklich.
Da ist sie. Die Angst. Übergroß kommt sie auf mich zugerannt. Mein Kind IST in der Stadt, dort, wo geschossen wird, dort wo gerade Schreckliches passiert. Ich starre auf den Fisch in der Styropor-Box.
Wir schalten den Fernseher ein. Terroristischer Anschlag oder Amoklauf.
Ich rufe Feli an. Sie sitzt im Taxi.
- ich bin gleich da. Ich hab’ euch lieb.
Sie schluchzt, als sie zur Tür hereinkommt. Erschöpft und mitgenommen sieht sie aus. Wir nehmen sie in den Arm, setzen uns auf die Couch, wiegen sie wie ein Baby.
Sie ist da. Bei uns. Sie blutet nicht. Sie ist unbeschadet. Ich fahre ihren Arm, ihre Schultern, ihre Wange mit den Fingern entlang – wie ich es getan habe, als sie geboren wurde. Benommen von der Perfektheit dieses kleinen Wesens, das meine Tochter ist.
Sie war ganz nah dran am Terror.
Sie erzählt
Das Lokal, in dem sie sitzt, ist nur zweihundert Meter entfernt von den Attentätern.
Eine ihrer Freundinnen, die später nachkommen will, sieht aus dem Auto heraus einen Mann mit Maschinengewehr. Sie duckt sich und ruft ihre ahnungslosen Freunde an.
- rennt weg vom Schwedenplatz. Hier sind Terroristen.
Im Hintergrund knallen Schüsse. Lili zieht ihre Freundin vom Stuhl hoch und befiehlt ihr zu laufen. Lilis Freundin ist meine Tochter Feli. Sie schätzt die Situation falsch ein, will sitzen bleiben und versucht, Lili zu beruhigen. Aber die lässt sich nicht beruhigen. Zum Glück nicht. Gehetzt wie wilde Tiere laufen die beiden durch die Innere Stadt, vorbei an vollen Gastgärten. Immer mehr Polizisten kommen ihnen entgegen. Hubschrauber kreisen. Panik erfüllt die Menschen.
- Gehen Sie hinein, bleiben Sie nicht auf der Straße.
Im Fernseher zuckt das Blaulicht über jeden Beitrag. Sirenen heulen.
Wieder zu Hause
Mein Kind ist wieder zu Hause. Dankbarkeit und Erleichterung überlagern andere Gefühle.
Unsere kleine heile Welt hat sich in ein paar Stunden verändert. Die Angst um sein Kind ist die schrecklichste Angst überhaupt. Diese wurde gestern gesät.
Was ich als Mutter dagegen tun kann? Nichts. Einfach nichts. Gar nichts.