Bergsteiger Katastrophe am Khan-Tengri

Von Oliver Häußler
Zahlreiche Bergsteiger versuchten den Khan-Tengri zu erklimmen und wurden von einer Eislawine begraben. Die Tragödie wird den zentralasiatischen Berg in ein anderes Licht rücken. Er hat den Beinamen "blutiger Berg".

Südlicher Inylchek-Gletscher, Kirgistan. Die neun jungen Bergsteiger aus Estland ahnen nicht, dass diese Kanne mit heißem Tee ihr Leben retten wird. Einer ihrer Kollegen hat sich beim Anziehen im engen Zelt, die volle Kanne über Hose und Socken geschüttet. Wie ungeschickt. Die Bergsteiger ärgern sich über die Verzögerung. Es dauert eine halbe Stunde, bis die Gruppe endlich loskommt. Alpinisten aus Polen, Tschechien und Russland schleppen ihre schweren Bergstiefel schon lange über den Gletscher. Zum Lager 2 des Khan-Tengri. Sie haben ihre Stirnlampen angeknipst. Mehr als 20 Lichtkegel schlängeln sich durch die Eishügel des Inylchek-Gletschers. Die estländischen Bergsteiger folgen den kleinen Lichtpunkten aus einiger Entfernung.

Es ist der 5. August.

Ein Donnerstag. Vier Uhr morgens. Mehr als 200 Bergsteiger versuchen in dieser Saison, den etwa 7000 Meter hohen Khan-Tengri in Kirgistan zu besteigen. Die meisten Bergsteiger kommen aus Osteuropa. Der Khan-Tengri gilt als relativ einfach. Auch bereitet die enge Schlucht zwischen Lager 1 und Lager 2 den Alpinisten technisch gesehen keine Probleme.

Kurz nach fünf Uhr beginnt es zu dämmern. Die neun Bergsteiger aus Estland sehen ihre Kollegen vor sich die Schlucht queren. Auf demselben Weg wie eine Unzahl von Bergsteigern in den Tagen, Wochen und Jahren zuvor.

Wenige Augenblicke dauert die Tragödie. Wenige Augenblicke, die den Khan-Tengri in ein anderes Licht rücken werden. Tausende Kubikmeter Eis donnern aus den überhängenden Gletschern in die Schlucht. Tonnen von Eis begraben die Bergsteiger aus Polen, Tschechien und Russland unter sich. Stirnlampen erlöschen. Die meisten für immer.

Um sechs Uhr geht der erste Funkspruch im Basislager des Pik Pobedy ein. Das einsame Camp der deutschen Expedition liegt wenige Kilometer südwestlich vom Khan-Tengri: Lawinenunglück. 13 Verschüttete. Mindestens. Vier Opfer geborgen. Drei davon tot. Einer mit einem gebrochenen Rückgrat.

Etwa 25 Bergsteiger wollen in diesem Jahr den 7439 Meter hohen Pik Pobedy besteigen. Fast die Hälfte kommt von der deutschen Mannschaft. Der kirgisisch-chinesische Grenzberg gilt als einer der schwierigsten Siebentausender. Selten verirren sich große Expeditionen an diesen Berg - im Gegensatz zum Khan-Tengri.

Aidsschleife auf dem Pik Pobedy

Expeditionsleiter Joachim Franz ist erschüttert. Der deutsche Extremsportler will mit seinem Team eine zimmerhohe Aidsschleife auf den Pik Pobedy tragen: Um im Kampf gegen die tödliche Immunschwächekrankheit Aids ein Zeichen des Lebens in die Todeszone zu bringen. Und nun das.

Hunderte von Zelten säumen jedes Jahr die Moräne des südlichen Inylchek-Gletschers am Fuße des Khan-Tengri. Mit überdimensionierten Mannschaftszelten, Bar, Internetcafé, Telefonstube, einer Sauna und kleinen Läden für Lebensmittel und Bergsteigerausrüstung. Hubschrauber bringen regelmäßig frisches Gemüse, Bier und neue Kunden in die kleine Zeltstadt. Zwei kirgisische und ein kasachischer Expeditionsveranstalter teilen sich die erfolgshungrigen und gut zahlenden Alpinisten. Partys, Easy Going - die Kommune der Bergsteiger lebt dort unter sich.

Die Bergsteiger aus Estland eilen zum Unglücksort. Setzen einen Notruf ins Basislager ab. Versuchen zu helfen. Mit ihren kleinen Schneeschaufeln haben sie keine Chance. Die Eisbrocken liegen wie Granit auf den verschütteten Opfern. Manche Brocken haben die Größe eines Autos. Vier Bergsteiger können die Esten aus den Massen herausziehen. Für drei kommt jede Hilfe zu spät. Ein Schwerverletzter kann später ins Krankenhaus ausgeflogen werden. Schock. Hilflosigkeit. Angst. Erleichterung, dass sie noch leben.

Prestigeträchtige Trophäen in 7000 Metern Höhe

Der Khan-Tengri wird aufgrund seiner frappierenden Ähnlichkeit mit dem Symbolberg der Schweizer Alpen das "Matterhorn" des Tien-Schan-Gebirges genannt. Das zentralasiatische "Himmelsgebirge" (Tien-Schan) schließt sich nördlich an den Hindukusch und das Pamir-Gebirge an, als ein Teil des Himalaja-Komplexes.

Es liegt auf dem Hoheitsgebiet von Kirgistan, Kasachstan und China. Der Khan-Tengri und Pik Pobedy sind die beiden höchsten Berge des Tien-Shan-Gebirges. Prestigeträchtige Trophäen, vor allem für Bergsteiger aus dem ehemaligen Machtbereich der früheren Sowjetunion. Die Höhe des Khan-Tengri variiert je nach Karte zwischen 6995 und 7010 Meter. An einem klaren Abend, von der kasachischen Steppe aus beobachtet, wirft die untergehende Sonne ihre Strahlen auf die Gipfelpyramide des "Königs der Götter" (Khan-Tengri). Dann sieht die Spitze aus wie ein Tropfen Blut, der sich gegen den dunkelblauen Nachthimmel abhebt. Deshalb heißt der Khan-Tengri auch Kan-Tau: blutiger Berg. Der Khan-Tengri wird in Zukunft seinen Beinamen aus einem ganz anderen Grund zu Recht tragen.

19 Uhr im Basislager des Pik Pobedy. Funkzeit. Olga, Übersetzerin und Köchin der deutschen Expedition, teilt dem Teamchef Joachim Franz mit, dass in den Lagern des Khan-Tengri inzwischen mehr als 20 Bergsteiger vermisst werden. Das Ausmaß der Katastrophe scheint sich auszuweiten. Das deutsche Expeditionsmitglied Wolfgang Knochenhauer, der seit den 60er Jahren die Berge der ehemaligen UdSSR besteigt, kann sich nur an eine Tragödie erinnern, die schlimmer war: Am Pik Lenin im Pamir-Gebirge begruben Anfang der 90er Jahre Eismassen das komplette Lager 2 unter sich. Mehr als 40 Tote. Ein Erdbeben löste die Lawine aus.

Freitagmorgen, 6. August.

Der Tag danach. Hubschrauber kreisen über dem Inylchek-Gletscher. Rettungskräfte und Mitglieder der polnischen, tschechischen und russischen Botschaften machen sich ein Bild von der Katastrophe. Währendessen gräbt ein Trupp Bergsteiger in dem Trümmerfeld. Jeder weiß, dass es keine Chance mehr gibt, Überlebende zu finden. Aber auch die Toten müssen geborgen werden. Die Bergungskräfte sehen drei Leichen unter einer meterdicken Eisschicht. Mit ihren Eisenstangen und Plastikschaufeln haben sie keine Chance. "Um die Toten da raus zu holen, bräuchte man einen Presslufthammer", sagt Chris, ein australischer Bergsteiger. Chris wohnt in dem kasachischen Camp und will alleine den Pik Pobedy besteigen. Am Nachmittag entkommen die Suchtrupps nur knapp zwei weiteren Eislawinen. Sie brechen die Bergung ab.

Im Lager von Chris wohnt ein Tscheche, der mit seinem Seilpartner fast schon die Schlucht durchquert hatte, als die Eislawine losbrach. Geistesgegenwärtig sprang der Tscheche in eine Gletscherspalte. Seinen Partner fand er später wenige Meter neben sich - die obere Körperhälfte von einem Eisblock zerquetscht. Seit Tagen läuft der Tscheche verstört durch das kasachische Camp. Wenige Zelte weiter neben Chris wohnen zwei weitere Seilschaften, eine deutsche und eine schwedische. Diese hatten bereits Tage zuvor das Höhenlager 3 bezogen und von dem Unglück nichts mitbekommen. Während wenige hundert Höhenmeter unter ihnen Bergsteiger das Leben verloren, erreichten die Deutschen und Schweden wohlbehalten den Gipfel.

Bis vor wenigen Jahren konnten die Expeditionen am Khan-Tengri in wenigen Minuten die gefährliche Schlucht zwischen Lager 1 und 2 durchqueren, erklärt die kirgisische Übersetzerin Olga den deutschen Bergsteigern. Die globale Erwärmung ließ auch im Tien-Shan-Gebirge Gletscher schmelzen. "Jetzt dauerte es mehr als eine Stunde, bis man die gefährliche Stelle durchquert hat", sagt Olga. Vor ein paar Jahren wollte Olga mit ihrem Mann, dem russischen Bergführer Dima, ebenfalls von Lager 1 auf Lager 2 aufsteigen. Dima hilft dem deutschen Team am Pik Pobedy. Das Paar war frisch verliebt und blieb eine Stunde länger als geplant im Zelt liegen. Auch an diesem Morgen rauschte eine Eislawine in die Schlucht und begrub Bergsteiger unter sich. Seitdem meidet Olga den Khan-Tengri wie die Pest.

Samstag, 7. August.

Die Deutsche Presseagentur (DPA) meldet sechs Tote und sechs Vermisste am Khan-Tengri. Die DPA beruft sich dabei auf die russische Presseagentur Itar-Tass. Auch die offiziellen Stellen in Kirgistan und Russland bestätigen nur den Tod von sechs Bergsteigern. Man sei guter Hoffnung, die übrigen sechs Vermissten zu finden. Die Basecamp-Manager der drei Lager können darüber nur lachen. 21 Vermisste führen sie auf ihrer Liste. Das heißt 21 Tote. Mindestens. Denn der Weg zu Lager 2 ist auch bei Trekking- Touristen ein beliebtes Ziel. Trekking-Touristen sind in keinem Basislager registriert. Auch gibt es eine handvoll unabhängiger Bergsteiger, die sich keinem der großen Lager angeschlossen haben. Wahrscheinlich wird es noch Wochen und Monate dauern, bis die genau Zahl der Toten feststeht. Wenn überhaupt.

Die Stimmung am südlichen Inylchek-Gletscher ist verhalten. Die Bar ist leer. Internetcafé und Telefonstube laufen auf Hochtouren. Grüppchen hocken herum und diskutieren verhalten. Manche Bergsteiger sitzen auf den Steinen der Randmoräne und starren ins Leere. Einige hundert Meter entfernt, auf dem Gletscher, steht ein Mann neben einem länglichen Sack. "Da drin liegt eine Leiche, die muss gekühlt werden", erklärt Olga, die ihre Freunde im Khan-Tengri-Basecamp besucht. Die restlichen Leichen wurden bereits ausgeflogen. Einige Bergsteiger mit ihnen. Sie haben aufgegeben. Ein anderer Teil der Bergsteiger setzt ebenfalls keinen Fuß mehr in die Todesschlucht. Sie nehmen jetzt den schwierigen Pik Pobedy der deutschen Expedition in Angriff. Der Rest des Lagers schwankt. Will abwarten. Ein paar ganz hart gesottene Bergsteiger ließen sich von der Katastrophe nicht beeindrucken. Sie stiegen wie geplant ins Lager 2 auf. Über die drei sichtbaren Leichen.

Am Abend schneit ein einsamer Bergsteiger in das Camp der Deutschen. Ben, ein US-Amerikaner, der seit zwei Jahren in Kirgistan lebt. Er lehrt Volkswirtschaft und geht in die Berge, so oft er kann. Im Lager 3 des Pik Pobedy erhielt er die Nachricht. Notfall. Er solle unbedingt bei seinen Freunden in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek anrufen. Ben dachte, es gebe einen Notfall in seiner Familie. Dabei wollten seine Freunde nur wissen, ob er noch lebt.

Ein Toast auf eine Teekanne

In den nächsten Tagen sollen Rettungskräfte eingeflogen werden. Mit Suchhunden. Die neun jungen Bergsteigern aus Estland kümmert das nicht mehr. Sie können den Khan-Tengri nicht mehr sehen. Sie wollen so schnell wie möglich nach Hause. So lange trinken sie jeden Abend Bier. Viel Bier. Um zu vergessen. Und um einen Toast auszusprechen. Einen Toast auf eine Kanne mit heißem Tee und ihren ungeschickten Besitzer.

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