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Fragwürdiges Männlichkeitsbild Sigma Males: Die problematische Obsession junger Männer mit Patrick Bateman

Christian Bale als Patrick Bateman in "American Psycho"
Eismaske und Eitelkeit: Christian Bale als Patrick Bateman in "American Psycho"
© United Archives / kpa Publicity/ / Picture Alliance
Lange galten führungsstarke Alphas als Ideal eines "echten Mannes". Inzwischen huldigen junge Männer auf TikTok dem neoliberalen Grindset des "Sigma Males". Der teils ironische Hype verbreitet eine frauenfeindliche Ideologie. 
"There are no girls with good personalities" – Diese Philosophie ist derzeit Vorbild vieler junger Männer auf Tiktok und Instagram. Gefeiert wird eine neoliberale Version von Männlichkeit, wie sie Bret Easton Ellis bereits 1991 anhand von Patrick Bateman in "American Psycho" beschrieb: 70-Stunden-Wochen im Büro, harter Grind im Gym und Frauen als reines Mittel zum Zweck. Vier Jahrzehnte später scheint das Bild aktueller denn je. Bateman ist das Aushängeschild einer neuen Internet-Bewegung: den Sigma Males.
Der Sigma Male gilt in der hypermaskulinen Internetszene von Life-Coaches und Alpha-Influencern als die "seltenste Form eines Mannes". Es ist der Lone Wolf, der auf Partys in der Ecke steht und sich nicht um die Bestätigung von Anderen schert. Mysteriös, schweigsam und intellektuell überlegen. Die Attitüde des Sigma Males bietet die perfekte Ausrede für soziale Abgeschiedenheit.

#sigma: Milliarden Aufrufe auf TikTok

In der schnelllebigen Welt von TikTok reiht sich der Trend in eine Reihe von Persönlichkeiten ein, die man sich aneignen kann, sobald man sich nur in einer bestimmten Art und Weise kleidet und benimmt. Der Hashtag Sigma hat auf TikTok über 35 Milliarden Aufrufe. Videos von einschlägigen Accounts wie @argenby haben oft mehr als hundert Millionen Views. Mit seiner äußerst akkuraten Bateman-Imitation (hochgezogene Augenbrauen, zugespitzte Mundwinkel) ist der Junge aus Kirgistan zu einem Internet-Star geworden. Auf seinem Kanal gibt er mal mehr, mal weniger ironisch Hilfestellung, was #sigma ist und was nicht.
Während Argenbys Videos nicht immer ernst zu nehmen sind, vermarkten selbsternannte Life-Coaches auf YouTube und Instagram den ausgedachten Status in Form von Videos, Seminaren und Amazon-Affiliate-Links. Diese Industrie suggeriert jungen Männern sie könnten von einem verunsicherten Trottel zu einem dominanten Sigma werden, wenn sie 500 Euro für ein Coaching ausgeben. Dabei immer präsent: die Glorifizierung traditioneller Geschlechterrollen.

Vom Chad zum Alpha: Wie Memes den politischen Diskurs beeinflussen

Offen ausgelebte Misogynie ist in den sozialen Netzwerken keine Weltneuheit. Sie wurden in den Nuller- und frühen Zehnerjahren vor allem in rechten Blogs, auf Imageboards wie 4chan und auf Kanälen von Pick-Up-Artists ausgelebt. Heute sind es vor allem TikTok-Videos und Memes.
In den letzten Jahren schlichen sich immer mehr frauenfeindliche und homophobe Gedanken in die Feeds und For-You-Pages junger Männer. Die Autorin Veronika Kracher arbeitet seit mehreren Jahren für die Amadeus Antonio Stiftung zu Misogynie, gekränkter Männlichkeit und Queerfeindlichkeit im Internet. Sie beschreibt Memes als "pseudoironische Annäherung an eine politische Diskussion". Durch die Bilder würden komplexe Inhalte mithilfe von Humor niedrigschwellig übermittelt.
Für Kracher sind Männlichkeitsvorstellungen und Antifeminismus seit Jahren plattformübergreifend zunehmend sichtbar in Memes. Auf das Image des hypermaskulinen Chads, folgten weitere Symbolbilder für toxische Männlichkeit wie der Sane Man und sogenannte Alpha Males, in Form von frauenfeindlichen Influencern wie Andrew Tate.

In der Manosphere regieren beruflicher und sexueller Erfolg

Alpha Males stehen seit jeher an der Spitze einer ideologischen Hierarchie verschiedener Persönlichkeiten in der Männerwelt. Sie nennt sich die Manosphere. Kracher beschreibt das Konstrukt als eine "Männlichkeits-Pyramide mit dem Alpha-Mann an der Spitze und Beta-Männern darunter." Das Bild eines Alpha Mannes als hypermaskulinen Anführers, wahlweise in Form von Thor oder Terminator, gab es in der Geschichte schon immer. In den 2000er wurde die Pyramide in rechten Blogs und Imageboards um das Bild des unterwürfigen Beta-Males erweitert.
Die Manosphere-Pyramide endet mit den Omega-Männern, zu denen sich auch Incels ("involuntary celibates", also unfreiwillig zölibatär lebende Männer) zählen. "Männlichkeit wird in dieser Hierarchie mit beruflichem und sexuellem Erfolg, gutem Aussehen und Führungsqualitäten gleichgesetzt", so Kracher. Besitzt jemand all diese Attribute gilt er als Alpha. "Frauen begehren sie, Männer wollen sein wie sie." Zumindest glauben Sie das.
Einer der frühsten und bekanntesten Unterstützer der Manosphere-Hierarchie ist der rechte Internet-Blocker Vox Day. Er war es auch der in einem Blogpost aus dem Jahr 2010 die binäre Unterscheidung zwischen Alpha- und Beta-Males um diverse weitere Männertypen erweiterte. Theodore Robert Beale, wie Vox Day bürgerlich heißt, gehört zur amerikanischen Alt-Right-Bewegung. In der Vergangenheit sorgte er immer wieder mit äußerst rassistischen und sexistischen Äußerungen für Aufsehen. So sollten Frauen laut Vox Day das Recht zu Wählen wieder verlieren, weil sie sich sowieso nur für den Mann entscheiden würden, mit dem sie lieber schlafen würden.

How to be a Sigma Male

Unter den neuen Männertypen gewann vor allem der sogenannte Sigma viel Popularität. "Er betrachtet sich als jemand, der sich auf demselben Attraktivitätslevel befindet wie ein Alpha. Aus einer freien Entscheidung agiert er jedoch außerhalb der Männlichkeits-Pyramide", erklärt Kracher. Frauen würden Sigmas lieben, gerade weil sie ihnen keine Beachtung schenken. So zumindest die Erzählung.
Diverse YouTube- und TikTok-Videos geben Auskunft darüber, was einen wahren Sigma ausmacht: er interessiert sich nicht für seinen sozialen Status, er ignoriert gesellschaftliche Normen und Trends und will kein Lob von außerhalb. Nicht die Gesellschaft lehnt Sigmas ab, sondern sie die Gesellschaft. "Menschen die sich als Sigma Males bezeichnen, sind keine angenehmen Zeitgenossen", meint Veronika Kracher. "Sie sind herablassend, abgestumpft, sexistisch und hängen simplifizierten Vorstellungen von menschlichen Interaktionen an." Dass diese Bewegungen vor allem in der Szene von Incels und Männerrechtlern an Beliebtheit gewinnt, verwundert daher nicht.
Aushängeschilder der "Sigma Male"-Szene sind vor allem fiktive Charaktere wie Tom Shelby aus der Serie Peaky Blinders, Batman's Joker oder Keanu Reeves im Hollywood-Blockbuster John Wick. Intelligente und stille Einzelgänger mit einem Hang zu körperlichen Auseinandersetzungen. Auch Tristan Tate, der mit seinem Bruder Andrew zusammen vor einigen Wochen wegen des Verdachts auf Vergewaltigung und Menschenhandel festgenommen wurde, wird von Anhängern der Manosphere zu den Sigmas gezählt. Eine Figur steht jedoch über ihnen allen: Patrick Bateman.

Die Patrick Bateman Obsession

Der Protagonist aus Bret Easton Ellis Bestseller "American Psycho" ist 27 Jahre alt. In jungen Jahren hat Bateman bereits alles erreicht und ist als erfolgreicher Investment-Banker an der Wall Street zu großem Reichtum gekommen. Seine Männlichkeit unterscheidet sich zu der eines Alphas aus griechischen Sagen. In der kapitalistischen Neuzeit kann man sich die Männlichkeit schließlich kaufen. Bateman startet den Tag mit Sit-Ups und Liegestützen. Er benutzt Honig-Mandelmilch- Peelings und trägt je nach Tageszeit Valentino-Anzüge oder Eismasken gegen müde Augenlider. Grade diese Adaption eines weiblich konnotierten Lifestyles führt bei Bateman zu einer noch extremeren ideologischen Abgrenzung von Frauen und Homosexuellen. Der Hass gegen Frauen führt später so weit, dass er sie auf sadistische Art und Weise umbringt.
Auf TikTok wird der Lifestyle eines Sigma Males in der Hustle- und Entrepreneur-Kultur Batemans dargestellt. Beziehungen sind nicht emotional, sondern instrumentell. Sie nützen einem bestimmten Zweck. "Die Memes benennen die Glorifizierung von neoliberaler Männlichkeit und rein instrumentellen Beziehungen ganz klar", meint Veronika Kracher. "Es bleibt jedoch eine sehr affirmative Darstellung. Es gibt keinen Bruch. Die Memes gehen mit einer Glorifizierung von Frauenverachtung einher."

Das Frauenbild der Manosphere

Das Frauenbild in der Sigma Male Bewegung ähnelt den Ratschlägen von Pick-Up-Artists in den Frühzeiten des Internets: Demütige und ignoriere sie, dann wollen sie dich umso mehr. Frauen dienen Männern in dieser Ideologie einzig und allein zur gesellschaftlichen und sexuellen Bestätigung. Für Veronika Kracher ist der Trend dementsprechend zutiefst misogyn: "Die Geschlechterrollen sind massiv biologisiert. Frauen werden als untergeordnete Menschen begriffen."
Kracher hat aber noch ein weiteres Problem mit dem Sigma-Kult. Laut ihr handelt es sich dabei um eine reaktionäre Ermächtigungsfantasie, die sich nicht in die Realität übertragen lässt. "Sie resultiert in dem Wunsch der Gesellschaft den Rücken zu zukehren und es ganz allein an die Spitze der Pyramide zu schaffen", sagt Kracher. Insbesondere für das junge Publikum auf TikTok wäre dies allerdings unrealistisch. Jugendliche definieren ihren sozialen Status durch Bestätigung von außen. "Das Narrativ komplett unabhängig leben zu wollen passt nicht zu unserer Natur als soziale Wesen".
Auch wenn sich viele User über das Sigma Grindset lustig machen, werden Menschenverachtung und soziale Kälte laut der Expertin durch die Clips massiv ästhetisiert. Viele Männer auf Instagram und TikTok würden in ihren Postings von der feinen Linie zwischen Humor und wahrer Verehrung abweichen. Zumal die meisten von ihnen "American Psycho" wohl weder gelesen noch gesehen haben dürften. Das Bateman schon damals als satirische Figur für die Leere des materiellen Kapitalismus fungierte – geschenkt. Heute ist er Posterboy der Hustle-Culture.

Plattform-Algorithmus stärkt Extremismus

Die gesellschaftlichen Regeln und der Blick auf Frauen, welche in der Bewegung propagiert werden, sind in keinem Fall auf das Internet beschränkt. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein ironisches Meme zu einer ernsten Ideologie entwickelt und in die Welt hinausgetragen wird. "Social Media macht es sehr viel einfacher mit diesen menschenfeindlichen Ideologien in Berührung zu kommen. Das fängt meistens mit harmlosen Männer-Frauen-Witzen an und wird mit der Zeit immer extremer", erklärt die Autorin Kracher. "Insbesondere TikToks Algorithmus pusht solchen Content sehr stark."
Der Feed der Videoplattform ist so programmiert, dass die User so lange wie möglich auf der App bleiben. Damit sich Inhalte nicht wiederholen oder langweilig werden, spuckt der Algorithmus immer extremere Videos aus. Vertreter der Manosphere setzen am Beginn dieser Kette an. Sie normalisieren frauenfeindliche Positionen mit augenscheinlicher Rationalität in Form von "So läuft die Welt nun einmal". Nicht jeder Mann der Sigma Content konsumiert ist frauenfeindlich, er bekommt allerdings einen Schubser in diese Richtung.
Es gilt daher weiterhin misogynen Content, auch in Form von witzigen Internet-Memes und ironischen TikTok-Video, als solchen klar zu benennen, meint Veronika Kracher. "Frauenfeindlichen Männlichkeitsvorstellungen muss man überall kritisch entgegentreten, sowohl online als auch offline."
Quellen:GQ, KnowYourMeme, Amadeus Antonio Stiftung 

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