Flugzeugunglück von Madrid "Unvorstellbar, dass sie tot sind"

  • von Sylvie-Sophie Schindler
Ausnahmezustand in Pullach: Nachbarn reagieren fassungslos auf die Nachricht, dass beim Flugzeugunglück in Madrid wahrscheinlich eine ganze Familie aus der Gemeinde ums Leben kam. Sie loben die Vermissten als "tadellose Familie". Viele wollen sich nicht vorstellen, dass sie tot sein könnten.

Das Haus sieht aus wie eines dieser noblen Münchner Vorort-Häuser, vor deren Türen TV-Kommissar Derrick auf der Suche nach dem Mörder oft stand und läutete. Der Rasen des über 1000-Quadratmeter-Anwesens ist sehr gepflegt. Würde man eine Horde Jungs hier reinlassen, wüssten sie die riesengroße Wiesenfläche sofort zum Fußballspielen zu nutzen. Die letzten Boten des Sommers blühen rings um die Terrasse: sonnengelbe, mohnrote und rosafarbene Blumen. Die Rollläden sind an einigen Fenstern heruntergelassen. Reifenspuren auf dem Kiesweg verraten, dass vor einiger Zeit ein Auto das Grundstück verlassen hat. Die Bewohner des Hauses sind nicht da - und im oberbayerischen Heimatort Pullach fragt man sich ängstlich: werden sie je zurückkehren?

Die Rede ist von Familie M. - der 50-jährige Gerd M., seine 38-jährige Frau Claudia und die fünf und acht Jahre alten Söhne Lukas und Niklas sind vermutlich bei der Feuerkatastrophe am Madrider Flughafen ums Leben gekommen.

Wörter wie "vermutlich", "höchstwahrscheinlich" und "möglicherweise" geben Raum für Hoffnung. Besonders den engsten Angehörigen, darunter das Ehepaar R., die Eltern von Claudia M. Sie wohnen ebenfalls in der Villa. Es wird noch Tage dauern, bis die Opfer des Unglücks identifiziert sind. "DNA-Tests dauern ihre Zeit", bestätigt Ludwig Waldinger vom Landeskriminalamt. Wohl am Samstag werde das DNA-Material der Familie M. elektronisch erfasst sein und nach Spanien weitergeleitet. Eine Situation zwischen Hoffen und Bangen. Kaum einer weiß, wie es sich wirklich anfühlt, mit dieser Unsicherheit zu leben. Man kann den Schmerz nur ahnen. Und warum ein "Vielleicht" ein bisschen Trost bieten kann in diesen schweren Stunden.

Auch die Aussagen von Behörden räumen Platz ein für Spekulationen. Die spanische Regierung spricht von fünf toten Deutschen, das Auswärtige Amt in Berlin weiß nur von vier deutschen Opfern. "Wir haben Hinweise von den zuständigen spanischen Behörden, dass sich vier Deutsche unter den Todesopfern befinden", sagt ein Sprecher. Ob tatsächlich alle Familienmitglieder unter den Todesopfern sind, ließe sich noch nicht mit letzter Sicherheit sagen. Zurück bleibt die Frage: Wer hat die Flammenhölle überlebt? - Die MD-82 Richtung Gran Canaria war unter den Flugnummern JK5022 und LH2554 registriert und sollte am Mittwoch um 13 Uhr starten. Es gab jedoch technische Probleme, die Maschine wurde überprüft und raste beim zweiten Startversuch gegen 14.45 Uhr über die Landebahn hinaus, ging in Flammen auf.

Traudl Gleissner wohnt seit knapp 50 Jahren in direkter Nachbarschaft mit den Eltern von Claudia M. "Eine tadellose Familie", sagt die grauhaarige Dame. Claudia sei eine "äußerst attraktive Frau", die beiden Söhne "selbstbewusst und fröhlich" und Ehemann Gerd "ein erfolgreicher Unternehmer". "Wenn ich nur daran denke, das…" Traudl Gleissner bricht mitten im Satz ab. Und sagt nach einer kurzen Pause: "Entsetzlich."

"Das ist doch Wahnsinn!"

Auch Adelheid Wirth gehört zu den Alteingesessenen. Nur zwei Hausnummern weiter lebt sie in einem gemütlichen Haus mit großem Garten. "Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass meine Nachbarn tot sind", sagt die 73-Jährige energisch. "Das ist doch Wahnsinn!"

Kinder radeln durch die kleine Seitenstraße, vorbei an der Villa der Familie M. Neugierig gucken sie auf das Absperrband, das die Polizei am Grundstück befestigt hat - die Polizei sichert im Hausinneren DNA-Spuren und sucht dazu Zahnbürsten, Rasierapparate und Haarkämme ab. Ein kleines Mädchen auf einem Skateboard sagt zu einem Jungen: "Im Fernsehen habe ich gestern das Feuer gesehen. Glaubst du, es tut weh, wenn man verbrennt?" Der Junge antwortet: "Das tut sicher so weh, dass man ganz laut schreien muss."

"Wir sind alle sehr betroffen

In der Ortsmitte der 9000-Einwohner-Gemeinde Pullach steht die 38-jährige Birgit vor einigen Zeitungsständern. Alle Blätter berichten auf ihren Titeln von dem Flammeninferno in Spanien. Sie weiß, dass eine Familie aus ihrem Heimatort betroffen ist. "Ich kenne die Familie zwar nicht, aber ich habe Gänsehaut, wenn ich mir vorstelle, dass sie nicht mehr am Leben sein könnten."

Als Bürgermeister Jürgen Westenthanner (CSU) heute durch das Rathaus ging, über die Treppen zu seinem Büro, spürte er "eine gedrückte Stimmung wie noch nie". Seine Mitarbeiter nähmen großen Anteil am Schicksal der Familie: "Wir sind alle sehr betroffen von der Meldung und beten, dass das Schlimmste nicht eintreten möge." Er habe bereits den engsten Angehörigen jede mögliche Hilfe angeboten. "Die Großeltern haben bisher Unterstützung abgelehnt. Sie möchten erstmal unter sich bleiben." Vor Ort würden sie einzig von Psychologen und Freunden betreut.

Ein paar Kilometer vom Anwesen der Familie M. entfernt ist der Kindergarten und die Schule, die Niklas und Lukas besuchen. Das malerische Eisentor ist verschlossen. Die späte Nachmittagssonne bescheint den leeren Hof. Noch sind Ferien in Bayern. Noch toben viele Kinder mit ihren Eltern am Meer und am Strand. Viele wurden von Flugzeugen dorthin gebracht. Wenn sich das Eisentor Mitte September wieder öffnet, so fragen sich alle, werden Niklas und sein jüngerer Bruder dann auch dabei sein unter den vielen Kindern, die sich so viel zu erzählen haben? Vielleicht. Man hofft weiter.

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