Wer sich mit der Bahn der Station Latimer Road in London nähert, sieht von weitem schon jenes Gebäude, das auch drei Tage nach dem verheerenden Brand noch dampft. Es steht da, verkohlt von innen wie außen, immer noch besprengt von Wasserkanonen. Auf den Straßen stehen die Menschen aus der Nachbarschaft. Darunter eine ältere Dame, Freundin der Familie Wahabi, die ihr Leben ließ im 21. Stock. Abdulaziz, seine Frau Faouzia und ihre drei Kinder.
Faouzias Bruder telefonierte noch nachts um zwei mit der Schwester, Rauch kroch da bereits in die Wohnung, aber sie war ganz ruhig. Faouzias Freundin erfuhr am frühen Morgen vom Schicksal der Familie. Sie spricht leise und bestimmt über diesen Ort, 70 Prozent Einwanderer, viele von ihnen gehörten zu den sozial Schwächeren. Sie sagt: "Das ganze Gebäude hatte nur einen Eingang und einen Ausgang, nicht mal einen Notausgang für 600 Menschen." Und wie sie immer wieder auf die Zustände hingewiesen hätten, die Brandgefahr. Es passierte nichts. Jetzt weiß das die ganze Welt.
Denn dieser Grenfell Tower war ja auch das: ein in der Höhe zumindest herausragendes Symbol der sozialen Spaltung in Kensington. Ein paar Blocks weiter, nur wenige Minuten zu Fuß entfernt, wohnen die Reichen in ihren gepflegten Villen und Stadthäusern. Dort sind die schicken Bars, die edlen Restaurants und Feinkostläden. Kensington galt vielen Briten als Metapher für den Reichtum in dieser reichen Stadt. Nun, vielleicht zum ersten Mal, realisieren viele, dass am Rand eben auch die Armen siedelten in Monstren wie dem Grenfell Tower.
Nur Zufall entschied über Leben und Tod
Es gibt Hunderte davon in London. Die Szenerie ist in den Tagen danach gespenstisch auch am helllichten Tag. Kamerateams streifen durch die Latimer Road auf der Suche nach Angehörigen; die TV-Reporter haben sich in der Nähe der "Notting Hill Methodist Church" mit Blick auf das schwarze Betonskelett postiert. Die Reporter erzählen die immer gleichen Geschichten von Leben und Tod. Darüber entschied in den meisten Fällen Glück oder Zufall.
Die Polizei hofft, dass die Zahl der Toten nicht dreistellig wird. Überall, an Häusern und Fenstern und Bäumen, pappen "Missing"-Flugblätter, ähnlich wie in New York nach dem 11. September. Missing Hesham Rahman, 20. Stock, Flat 204. Missing Khadija Saye, 20. Stock, die inzwischen für tot erklärt wurde. Missing Mariem Elgwahry, 19. Stock, Missing Husna Begum, Missing Ligaya Moore. Und Missing Jessica Urbano, zwölf Jahre alt, die um 1.39 Uhr aus dem 20. Stockwerk flüchtend noch ihre Mutter anrief; das war ihr letztes Lebenszeichen. Deren Cousin Adel mit Freunden nun durch die Straßen läuft, ein Foto des Mädchens auf sein T-Shirt geheftet, die Augen feucht, die Stimme brüchig. Er kann auch nicht mehr reden.
Jessicas Geschichte ist insofern besonders tragisch, weil auf Facebook Berichte auftauchten, wonach sie am Leben sei, mutmaßlich gesehen von mehreren Zeugen zu verschiedenen Uhrzeiten. Aber vermutlich waren auch diese Berichte falsch. Oder auch nicht. Man weiß es nicht. Jessica wird weiter vermisst.
Wie viele Menschen starben, ist noch nicht bekannt
In den Tagen danach ist nur das Ungewisse gewiss. Es gibt viele Geschichten von Helden, die halfen und von Toten, die es nicht schafften. Es gibt Geschichten von Babys und Kleinkindern, die von verzweifelten Eltern aus den Fenstern geworfen und unten aufgefangen wurden "wie ein Rugbyball". Und es gibt immer mehr Fragen zu diesen Berichten, und Physiker und Mediziner werden einvernommen und äußern vorsichtig Zweifel daran, weil das physikalisch einem Wunder gleichkäme und Wissenschaftler an Wunder nicht glauben.
Die Zahl der Toten? Ein Schätzwert, 30 bislang bestätigt, und sicher ist nur, dass es mehr werden, wenn erst die Einsatzkräfte in die obersten Stockwerke gelangen. Sicher ist auch, dass viele der Opfer nie richtig identifiziert werden können. Und sicher ist, dass nun das politische Tauziehen beginnt und Vorwürfe ausgetauscht werden. Jeremy Corbyn, der Labour-Boss, war da und umarmte die Menschen in den Not-Unterkünften. Die Premierministern May war auch da, hielt sich aber wie bereits im Wahlkampf von den Menschen fern und gab eine peinliche Figur ab. Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan war natürlich auch da und wurde von Teilen der Menge angebrüllt, eine Flasche flog. Die Queen und Prinz William besuchten die Gegend auch. Da flogen keine allerdings Flaschen.
Nach dem Schock bricht sich allmählich die Wut bahn. Verschwörungstheorien machen die Runde, "sie versuchen etwas vor uns zu verstecken", ein alter Ire in kurzen Hosen wirbt für Gott und den Staat Israel, und im Pub "Pig and Whistle" sitzen die Leute im Biergarten, starren auf den Tower und ertränken ihren Kummer. Und die Aufräumarbeiten haben noch nicht mal begonnen.