Eine Frau kämpft um Sterbehilfe "Mein letzter Lebenstag wird eine Befreiung sein"

  • von Arno Luik
Der Bundestag stimmt heute über Sterbehilfe ab. Es sind Fälle, wie der von Helga Haberl, die bewegen. Sie war eine erfolgreiche, glückliche Frau – bis ein Autounfall sie in ein Dasein voller Schmerzen warf. Sie hat nur noch diesen Wunsch: selbstbestimmt sterben.

Der Bundestag stimmt heute über Gesetzesentwürfe zur Sterbehilfe ab. Unabhängig vom Ausgang steht für Helga Haberl fest: Sie möchte noch vor dem Winter sterben. In einem Interview mit dem stern schilderte die schwer kranke Frau ihre Beweggründe. Dem Gespräch ging ein Briefwechsel mit Autor Arno Luik voraus. Briefwechsel und Interview erschienen zuerst im stern Nr. 42.

stern: Sie wollen, Frau Haberl, sich demnächst umbringen.

Haberl: Sagen Sie das nicht so laut. Und ich sage auch nicht "umbringen".

Aber es ist doch ein Selbstmord, den Sie planen.

Nein, auch dieses Wort benütze ich nicht. Das klingt so furchtbar. Mord! Für mich wird mein letzter Lebenstag ja eine Befreiung sein. Wenn ich darüber rede, spreche ich also davon, dass ich "mein Leben beende, dieses Leben, das ich nicht mehr ertrage".

Aus dem Briefwechsel

Mein Todeswunsch hat mit meinem Alter nichts zu tun. Da sind einfach 55 Jahre mit ständigen Schmerzen. Mehr als 20.000 Tage Qualen. Fünf Jahrzehnte mit Depressionen und den fürchterlichen Nebenwirkungen der Medikamente, die ich nehmen muss. Und wenn jemand wie ich seit Jahrzehnten leidet ohne jegliche Hoffnung auf Besserung, gar Heilung, warum soll dieser Mensch dazu verdammt sein, noch weitere Jahre des Leids zu er tragen? Ich glaube schon, dass ich das Recht habe, mein Leben endlich zu beenden. Und ich bin mehr als dankbar, dass ich jetzt eine Ärztin kennengelernt habe, die mir helfen wird. Damit ich nicht, falls etwas schiefgeht, gut bewacht in einer geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie wieder aufwache. Vielleicht auch noch verblödet!

Gibt es etwas, mit dem ich Sie stoppen könnte? Ihnen vielleicht sogar helfen könnte?

Nein. Das Einzige, was mich vielleicht im letzten Augenblick noch abhalten könnte, ist meine Angst vor dem Jenseits.

Das verstehe ich nicht.

Mein Glaube hat mir bisher geholfen, mein Schicksal anzunehmen und weiterzuleben. Er hat mich aber auch dazu verdammt ... nein, er hat mir geradezu verboten, an einen Suizid zu denken. Inzwischen denke ich manchmal, Gott wird Verständnis dafür haben, dass ich mit diesem Leben nicht weiterleben konnte. Doch ich zweifle zunehmend an seiner Gerechtigkeit.

Sie haben Angst vor dem "ewigen Leben", diesem christlichen Glücksversprechen?

Vielleicht. Ich würde ja wahnsinnig gern eines natürlichen Tods sterben. Mein Gemütszustand ist so, dass ich dankbar wäre, wenn ich jetzt einen Krebs kriegen würde, dann müsste ich nicht mehr darüber nachdenken, mein Leben selbst zu beenden. Jeden Morgen wache ich auf mit dem Gedanken, wie schön wäre es doch, wenn ich tot wäre. Ich sage: "Herrgott, du weißt doch, was ich will!"

Aber er schweigt.

Er schweigt. Und auf diesen natürlichen Tod kann ich nicht mehr warten. Ich habe einfach keinen Lebenswillen mehr. Doch gleichzeitig empfinde ich Angst vor dem Unbekannten nach dem Sterben. Und da ist auch die Ungeheuerlichkeit des von eigener Hand herbeigeführten Tods.

In Ihnen ist das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun.

Diese Ungewissheit bedrückt die Seele. Denn in mir, so bin ich erzogen worden, sehr, sehr fromm, ist diese Vorstellung: Wenn du dein Leben selber beendest, und es gibt dieses Jenseits – dann wirst du vielleicht von Gott für deine Tat bestraft mit Depression in Ewigkeit.

Glauben Sie, dass Gott, wenn es ihn denn gibt, so gemein sein könnte?

Als Strafe halte ich es für möglich. Aber er weiß ja, was er mir auferlegt hat und dass ich es nicht mehr aushalten kann. Da müsste er eigentlich barmherzig sein. Aber ist er es? Mein Glaube an einen gerechten, barmherzigen Gott schwindet von Tag zu Tag. Gott ist ja, zumindest im Alten Testament, ein strafender, ein unbarmherziger Gott. Im letzten halben Jahr ist mein Glauben immer mehr ins Rutschen gekommen.

Helga Haberl in einem Brief

Wenn ein Mensch über zwei Drittel seines Lebens nur noch mit Schmerzen überlebt und so 80 Jahre Lebenszeit erreicht hat, dann sollte, dann muss er die Möglichkeit haben, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Aber dazu auch Hilfe erhalten, wenn er würdig sterben will. Dass er sich nicht vor die U-Bahn werfen, aus dem x-ten Stockwerk springen, sich aufhängen muss, oder welche Möglichkeiten es da noch geben kann. Ich kann nur hoffen, dass das Menschen lesen, die die Möglichkeit und das Verständnis haben, die bestehenden Gesetze in diese Richtung zu verändern!

Ist das gut oder schlecht für Sie?

Das weiß ich nicht. Ist der Glaubensverlust Befreiung oder Bedrückung? Früher konnte ich mich im Gebet an ihn klammern, das wird immer schwieriger. Da ist kein Trost mehr.

"Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln", steht im Psalm 23.

"Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich." Das ist doch eine Lüge. Anders als früher hadere ich jetzt mit Gott. Ich frage mich, wie kann es sein, dass mein damaliger Ehemann, der mein Leben psychisch und physisch ruiniert hat, dass der ein wunderschönes Leben führen konnte und, wenn man das so sagen kann, einen schönen, schnellen Tod hatte – und dass ich, sein Opfer, seit Jahren qualvolle, unheilbare Schmerzen habe, zeitweise querschnittsgelähmt war, Nervenspasmen habe, nur durch Schmerzmittel und Antidepressiva durch die Tage, Nächte und Jahre komme, dass nun die alte Lähmung immer mehr zurückkommt, ich deswegen häufig kopfüber hinstürze, dass …

Frau Haberl, wie erinnern Sie sich an den Tag, aus dem Sie aus Ihrem Leben gefallen sind?

Es war der 30. Oktober 1960. Mein Mann war ein guter, aber auch rücksichtsloser Autofahrer. Er hätte Rennfahrer werden sollen. Er ist immer gerast, hat extrem überholt, es war für mich als Beifahrerin furchtbar. Aber ich war ja seine Frau, ich musste gelegentlich mit ihm fahren. An diesem Tag waren wir unterwegs vom Ammersee nach Oberammergau, um Krippenfiguren auszusuchen. Mit seinem Porsche ist er in einen Cadillac gekracht – der war natürlich stärker. Ein Frontalzusammenstoß wegen überhöhter Geschwindigkeit. Eine Sekunde hat mein Leben total verändert.

Kurz zuvor waren Sie noch ein gefragtes Model, auf den Titeln von vielen Zeitschriften, und …

… und jetzt war ich zerstört. Als ich nach einer Woche aus dem Koma aufwachte, ist das Erste, an das ich mich erinnern kann, ein Arzt, der zu mir sagt: „Erschrecken Sie nicht, wenn Sie sich im Spiegel sehen.“ Ich war mit dem Kopf gegen einen Haltegriff im Auto geknallt, und eigentlich hätte der mir den Schädel spalten müssen. Es wäre das Beste gewesen.

Frau Haberl, Sie haben allen Grund, verbittert zu sein.

Ein Arzt meinte mal, dass ich mit dem, was ich alles durchgemacht habe, eine verbitterte, böse Alte sein müsste, die an der Flasche hängt. Wirke ich auf Sie verbittert?

Nein, vor mir ist eine Frau, die viele Jahre jünger scheint, als sie ist.

Wenn Sie wüssten, was für Kraft es mich gerade kostet, nicht depressiv und schmerzgeplagt zu wirken. Ich reiß mich mit aller Gewalt zusammen. Aber ich kann nicht so schlagfertig sein, wie ich möchte. Ich hab Denkhemmungen, eine innere Leere, ich kann kaum sprechen, alles ist so mühsam. Ich hab gerade das Gefühl, mein linkes Bein stirbt ab.

Sie wirken so vital.

Das Schlimmste für mich ist, wenn jemand sagt: So wie Sie aussehen, muss es Ihnen gut gehen! Ich gehe manchmal schon gar nicht mehr aus dem Haus, weil ich Angst vor der Frage habe: "Wie geht es dir?" Ich kann doch nicht die Wahrheit sagen.

Aus dem Briefwechsel

Ich kann Gunter Sachs gut verstehen. Hätte auch ich eine Pistole, hätte ich mich wohl schon längst erschossen. Manche Menschen, die mich kennen, wissen, dass ich mein Leben selbst beenden will. Andere spüren nun, wie lebensmüde ich bin. Und sie ziehen sich mehr und mehr zurück, als wäre das eine ansteckende Krankheit. Eine Nebenwirkung der Medikamente, die ich nehmen muss, ist die sogenannte Xerostomie. Sie ist irreversibel. Mein Mund ist ständig trocken, ich muss dauernd zwanghaft Speichel saugen, wodurch ich jeden Tag einen wunden Gaumen und eine aufgebissene Zunge habe. Das macht mich verrückt. Befreit davon bin ich nur im Schlaf. Wie grauenvoll das ist, kann sich niemand vorstellen. Ich kann es nicht mehr lange ertragen. Ich kann nicht mehr fröhlich, unbeschwert und aktiv sein. Aber keiner will Kontakt mit einem Menschen haben, der so schwierig zu sein scheint. Ich werde immer einsamer. Meine Bekannten sind in fröhlichen Cliquen, und ich bin draußen. Man ist von allen abgetrennt. Ich konnte mich ja auch mit meinen ständigen Schmerzen und Depressionen keinem Mann zumuten. Das ist bitter. Ich will eigentlich nicht mein Leben beenden. Ich will nur, dass all die Qualen endlich vorbei sind.

Ihre Todessehnsucht ist ja auch verstörend.

Ich weiß. Doch jeden Tag, den Gott werden lässt, muss ich Fürchterliches überwinden. Manchmal sitze ich da, stundenlang, apathisch, antriebslos. Ohne Hoffnung. Da ist ein Fleck auf dem Teppich, ich möchte ihn wegwischen, aber ich schaffe es nicht. Da ist ein Druck auf meiner Brust, ich bin ohne Kraft, erschöpft. Es macht Mühe, in die Dusche zu gehen. Es macht Mühe, sich die Zähne zu putzen. Das Leben hat seinen Sinn verloren. Die Gegenwart existiert nicht mehr. Ich erfahre nichts außer Qual. Meine Gefühle sind wie tot. Selbst Musik, die mir so viel bedeutete, kann mich nicht mehr groß rühren. Ich kann mich an nichts mehr wirklich erfreuen.

Hier in Ihrer Wohnung sind wunderschöne Blumen in Vasen, das zeigt doch, dass es noch Dinge gibt, die Sie erfreuen können.

Ich weiß, dass diese Blumen schön sind, aber in mir blüht nichts mehr.

Die US-amerikanische Schriftstellerin Sylvia Plath, die sich wegen ihrer Depression das Leben nahm, schrieb über ihre Krankheit, das sei, als ob man eine Glasglocke übergestülpt bekäme und dann die Luft abgepumpt würde.

Neulich war ich bei einer Ballettpremiere, ich hatte mich rausgeputzt mit einem Fascinator, so einem lustigen Tüddeldü auf dem Kopf. Der Chefdramaturg des Balletts begrüßt mich: „Mein Gott, Helga, toll schaust du aus!“ Aber dann, nach ein paar Minuten, ganz unvermutet, empfinde ich, als ob einer eine Glocke über mich gestülpt hätte. Ich reiß mir den Fascinator vom Kopf. Er passt nicht mehr zu meiner Düsternis. Ich kann nicht mehr atmen. Da ist der Wunsch nach dem Tod. Der unwiderstehliche Drang, vor eine U-Bahn zu laufen. Aber dieses Trauma kannst du keinem zumuten.

Frau Haberl, Sie planen Ihren Tod. Gibt es noch Dinge, die Sie unbedingt erleben möchten.

Ich habe alle Bankpapiere, die ich hatte, verkauft. Ich gebe das Geld jetzt für mich aus und mach ein paar Dinge, die ich schon immer unbedingt machen wollte. Dass ich mir das leisten kann, verdanke ich meinem Exmann, der ansonsten nur Unglück über mich brachte. Ich war in Venedig, vergangene Woche war ich in Riga, ich möchte noch nach Prag, vielleicht auch Madrid. Aber ich habe gemerkt: Diese Reisen, abgesehen davon, dass sie zu anstrengend sind, geben mir keinen Seelenfrieden. Ich gebe jetzt halt mein Geld aus, spende hier etwas, spende dort etwas. Zu was soll ich mein Geld, es ist nicht viel, aufheben? Ich habe keine Freunde, keine Familie mehr.

Aus dem Briefwechsel

In Ländern, deren Gesetzgebung liberaler ist als bei uns, hat die aktive Sterbehilfe nicht überhandgenommen. Die Einstellung zur aktiven Sterbehilfe, davon bin ich überzeugt, wird sich auch in Deutschland im Laufe der Jahre ändern müssen – einfach weil es immer mehr alte Menschen gibt, die ihr Leben überlebt haben. Ich bin sterbenselend. Nicht nur wegen der Depressionen, sondern vor allem wegen meiner chronischen Schmerzen. Ich hab ja alles versucht, alle möglichen Therapien probiert, zuletzt eine Hormontherapie, die aber auch nicht hielt, was sie versprach. Ich war bei allen möglichen Spezialisten, war in den USA, war in der Schweiz, in Österreich. Alle Untersuchungen der Ärzte hatten immer das gleiche Ergebnis: unheilbar.

230 Gäste hatten Sie neulich zu Ihrem 80. Geburtstag eingeladen.

Ich wollte die Leute, die einmal meinen Lebensweg gekreuzt haben, noch einmal sehen, mich sozusagen von ihnen verabschieden. Das waren meist nur Bekannte, keine echten Freunde. Ich wollte, dass sie mich in Erinnerung behalten, wie ich gern in Erinnerung gehalten werden möchte: als fröhlich und großzügig. Damit ich an dem Tag so richtig feiern konnte, hat mir ein Arzt ein wunderbares Aufputschmittel gegeben. Leider hat er mir nicht verraten, was es war, und er gibt es mir auch nicht mehr.

Hier, in Ihrer Wohnung, an den Wänden, in den Regalen, überall sind Erinnerungsstücke. Sie als Model auf dem Cover der "Brigitte" , Sie mit berühmten Künstlern. Wie ist das für Sie, diese Dinge, dieses schöne Zuhause zurücklassen zu müssen?

Das ist Vergangenheit. Es ist nicht mehr wichtig, dass ich eines der bestbezahlten Models in Deutschland war. Es berührt mich nicht mehr. Mich belastet eher die Vorstellung, das alles hier ausräumen zu müssen. Ich muss ja ohnehin noch viele Formalitäten erledigen. Vor Kurzem hatte ich einen Termin beim Bestattungsamt, von diversen Ämtern habe ich alle für einen Sterbefall notwendigen Dokumente angefordert und verfügt, dass ich eine Feuerbestattung bekomme. Ich bereite mein Gehen zum Herbstende vor. Ich möchte nicht mehr den Winter, den ich mag, erleben. Ich möchte auch nicht mehr den Frühling, den ich noch mehr mag, erleben. Wissen Sie, Herr Luik, womit ich gerade beschäftigt bin?

Nein. Schreiben Sie Abschiedsbriefe?

Ja. Ich fange sie meist so an: „Wenn du diesen Brief in Händen hältst, dann bin ich erlöst.“ Ich bin in diesen Briefen sehr ehrlich. Ich schreibe, wie ich gewisse Dinge empfunden habe, was mich enttäuscht oder gefreut hat. In manche Kuverts, Kuverts mit Trauerrand, stecke ich Geld oder Schmuck. Ich überlege mir, wem ich was gebe, wer sich um mich gekümmert hat, wer etwas brauchen kann. Mein Testament habe ich deswegen schon ein paarmal umgeschrieben, ein paar Leute sind rausgeflogen.

Wissen Sie, was Sie an dem Tag, an dem Sie die tödlichen Tabletten nehmen, anziehen?

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber ich weiß, dass ich hier in dieser Wohnung sterbe. Ich will nicht in die Schweiz. Dort in einem unbekannten, vielleicht sogar schäbigen Zimmer zu sterben, finde ich entwürdigend. Ich bin so froh, dass ich nun eine Ärztin gefunden habe, die aus der Schweiz kommt, die bei mir sein wird. Ich werde Kerzen anzünden und Mozarts Klarinettenkonzert anhören. Diese Musik ist Reinheit pur. Wenn du mit dieser Musik in den Ohren hinübergehst, dann bist du wirklich erlöst. Genau beim zweiten Satz dieses Konzerts möchte ich für immer einschlafen.

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Zwischen politischer Debatte und konkreter Hilfe für Leidende

Der Wunsch zu leben ist die Basis jeder menschlichen Existenz. Trotzdem halten sehr viele eine Situation für möglich und nachvollziehbar, in der ein Mensch nur noch sterben will. Wer unheilbar krank ist, soll Leiden auch mit der Unterstützung anderer abkürzen dürfen, sagen zwei Drittel der Deutschen. Nur 13 Prozent lehnen eine solche "aktive Sterbehilfe" ab, wie eine Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach 2014 zeigte.


Kommt ein Mensch dann aber tatsächlich in eine solche Lage, fällen die wenigsten die Entscheidung zur Sterbehilfe so klar, wie es solche Zahlen vermuten lassen. Davon berichten jene Mediziner und Betreuer, die schwerstkranken Patienten begegnen. 94 Prozent der Ärzte gaben in einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin an, sie erlebten den Sterbewunsch der Kranken nur selten als absolut. Zudem gehe es den allermeisten auch nicht um das sofortige Ende ihres Lebens, sondern um das Ende einer als unerträglich empfundenen Situation. Wie bei jedem drängenden Todeswunsch, so ist auch der Wunsch zum aktiv eingeleiteten Sterben nicht Ausdruck einer wirklich freien Wahl, sondern tiefster Verzweiflung und quälender Ausweglosigkeit. Am wenigsten hilft dann die Tabuisierung des Themas oder gar die moralische Verurteilung jener, die nicht mehr leben wollen. Das Reden über ihre Gedanken und Gefühle fällt ihnen zwar oft schwer, wird von den meisten Betroffenen aber als entlastend empfunden. Wer in seinem Umfeld keinen Menschen hat, mit dem er reden kann, findet trotzdem jederzeit ein offenes Ohr. Gesprächspartner stehen, auch anonym, rund um die Uhr und kostenfrei unter diesen Telefonnummern bereit: 0800-1110111 und 0800-1110222.


Zuwendung und Mitgefühl sind zweifellos wichtig, konkrete Hilfe ist es aber nicht minder. Die derzeitige politische Debatte rund um das Lebensende hat auch die Bedeutung der Palliativmedizin gestärkt. Bei ihr steht nicht die Heilung im Vordergrund, sondern die Beherrschung von Schmerzen und anderen schlimmen, oft auch psychischen Beschwerden. Lebensqualität ist das wichtigste Ziel dieser Art von Behandlung. Der Tod soll dabei weder beschleunigt noch hinausgezögert werden.


Welche legalen Wege zur Sterbehilfe heute zur Verfügung stehen, etwa der "Behandlungsabbruch", ist selbst manchem Mediziner unklar, wie Vertreter der DGP beklagen. Wer aber als leidender Mensch oder Angehöriger ein wirkliches Wahlrecht haben soll, muss gerade dann, wenn es um Leben und Tod geht, über alle Möglichkeiten des Lebens und Sterbens informiert werden. Der inzwischen 82-jährige Dichter Reiner Kunze schrieb einmal: Suizid sei "die letzte aller Türen. Doch nie hat man an alle schon geklopft".

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