Neulich beim Fernsehduell. Wenn wir mal schauen, wie wir heute dastehen in Deutschland ... Hat sie wirklich eine schwarz-rotgoldene Halskette um? Kann nicht sein. Wer berät sie nur? ... Haushalte konsolidieren ... weiter aufwärts ... Wachstumsmotor ... Stabilitätsanker ... Nee, schwarz-gold-rot. Also belgisch. Bizarr ... Menschen in Arbeit bringen ... dafür sorgen, dass der Reformdruck auf Griechenland nicht nachlässt ... Das übliche Social-Media-Gewitter beginnt: ein Fanschal in Schmuckform. Sieht aus wie recycelt aus Senseo-Kaffeekapseln. Haben ihr bestimmt die Buben aus der Jungen Union gelötet.
Ich muss es zähneknirschend zugeben: Ich war auch eine von denen, die völlig pubertär auf die Kette starrten, während es um die nächsten vier Jahre deutscher Politik ging. Auch am nächsten Tag drehten sich die Gespräche nur um die verdammte Kette (und ein bisschen um Stefan Raab). Sind wir eigentlich alle verrückt geworden? Sollte man uns nicht auf der Stelle zum Staatsbürgertest schicken?
Unnützes Wissen
Es war ja nicht nur dieser Abend. Wenn man die Lust, mit der sich auf solche Banalitäten gestürzt wird, vergleicht mit dem Wissen über die Konvergenzkriterien der EU oder darüber, was genau in Syrien los ist, könnte einem angst und bange werden. Hängt das eine möglicherweise mit dem anderen zusammen? Je weniger man das Große kapiert, desto fanatischer widmet man sich dem Kleinen? Ein ähnliches Phänomen ist die seltsame Liebe der Deutschen zum Genre des unnützen Wissens. Vor x Jahren wurde das Prinzip - skurrile Fakten, die niemand kennen muss und die man trotzdem geradezu zwanghaft liest - vom stern-Schwesterblatt "Neon" erfunden, seitdem ist der Markt der Bücher mit Titeln wie "Unnützes Wissen Köln - 771 erstaunliche Fakten", "Schreckliches Wissen - 665 Fakten, die Sie lieber nicht gewusst hätten" oder "Unnötige Fakten - verrücktes Wissen und informative Witze zum Staunen, Lachen und Angeben" geradezu explodiert.
Allen gemeinsam ist die wahllose Anhäufung von Faktenschnipseln, kaum einer länger als ein Satz: Die ersten Marlboros wurden mit pinkfarbenen Filtern verkauft, damit Lippenstift darauf nicht zu sehen ist. Jack Lemmon wurde in einem Aufzug geboren. Die hessische Landesverfassung sieht die Todesstrafe vor. In Alaska gibt es fast so viele Flugzeuge wie Autos. 74 deutsche Landschaften führen die Bezeichnung Schweiz im Namen. Bienen haben fünf Augen. Indien nahm 1950 nicht an der Fußball-WM teil, weil die indische Mannschaft barfuß spielen wollte und die Fifa es nicht erlaubte; daraufhin sagten die Inder ab. Der weiße Mond auf den Fingernägeln heißt Lunula. Kraken haben einen Lieblingsarm. (Geben Sie es zu: Sie würden lieber mehr davon lesen als jetzt den Rest dieser Kolumne.)
Die Unlust am Verstehenwollen
Dieses Schnipselwissen ist unterhaltsam, keine Frage. Schnell konsumierbar auch, klassische Klolektüre: Man kann an jeder Stelle einsteigen und wieder aufhören. Und manches ist trotz Behauptung des Gegenteils richtig nützlich, im März zum Beispiel kassierte der Münchner Sebastian Langrock die Million bei Jauch, weil er kurz zuvor in einem dieser Bücher die Antwort auf die Frage "Wer sollte sich mit der 'Zwanzig nach vier'-Stellung auskennen?" gelesen hatte.
Doch die Unlust an Zusammenhängen, an Konsequenzen aus dem Wissen, am Verstehenwollen ist schon auffällig. Kraken haben also einen Lieblingsarm, aha, so so, ja und? Und Angela Merkel hat 'ne Kette um. Und der mit über zehn Millionen Aufrufen meistgelesene Artikel der deutschen Wikipedia-Seite war 2012 der über das Thema Sackgasse.