Ihre Augen sind sanft geschlossen, ihre Haut ist glatt, die Wangen rund und voll. Die Haare gescheitelt und im Nacken zusammengebunden. Sie scheint jung, vielleicht sogar noch ein Teenager. Ihre Identität konnte nie geklärt werden, doch ihr Antlitz ist weltweit bekannt. Die junge Frau soll Ende des 19. Jahrhunderts in der Seine in Paris ertrunken sein. Ihre Totenmaske wurde zu einem begehrten Dekorationsgegenstand in ganz Europa – und zur Vorlage für die Reanimationspuppe "Resusci Anne". An der Geschichte gibt es aber Zweifel.
Die Unbekannte aus der Seine ist ein "Gesicht voller Rätsel"
Etwa 20 Jahre alt soll die junge Frau gewesen sein, als man sie in der Seine fand. Da man keine äußeren Gewalteinwirkungen feststellen konnte, schloss man laut "Deutschlandfunk" auf einen Suizid. Zu der Zeit war es üblich, Tote, die man nicht identifizieren konnte, öffentlich auszustellen, in der Hoffnung, jemand würde sie erkennen. Das Leichenschauhaus von Paris befand sich damals direkt hinter der Kathedrale Notre Dame, am Rande der Insel in der Seine, l'Ile de la Cité. Laut einem Bericht des "Guardian" seien die Leichen auf schwarzen Marmorplatten im Fenster der Leichenhalle aufgestellt worden. Von dem Ort ging offenbar eine morbide Faszination aus – er war ein beliebtes Ausflugsziel für Passanten und sogar Familien.
Auch die unbekannte Ertrunkene sei dort zu sehen gewesen. Doch niemand schien sie zu kennen oder zu vermissen. Wie unter anderem die "Süddeutsche Zeitung" berichtet, soll der Pathologe, der die Frau untersucht hatte, so fasziniert von ihrem Gesicht gewesen sein, dass er von einem "Moleur", einem Formgießer, einen Gipsabdruck anfertigen ließ. Solche Totenmasken "erhalten die letzten, scheinbar authentischen Gesichtszüge eines Menschen kurz nach dem Ableben", erklärt das Museum für Sepulkralkultur. Das Besondere an dem Frauengesicht, einem "Gesicht voller Rätsel", war ihr Lächeln. Ein leichtes, glückseliges Lächeln ähnlich einer "ertrunkenen Mona Lisa", wie es Albert Camus ein beschrieb. Ein Lächeln, das im Laufe der Jahre Dichter, Künstler, Autoren inspiriert hat.
Totenmaske wurde in Europa zu einem beliebten Wohnungsschmuck
Nach dem Gipsabdruck sollen die "Mouleurs" die Maske vor ihren Werkstätten am linken Ufer der Seine zum Verkauf angeboten haben. Wie der "Guardian" schreibt, sei das Antlitz der jungen Frau "zwischen den Toten- und Lebensmasken berühmter Männer wie Beethoven und Oliver Cromwell sofort aufgefallen". Die Nachfrage nach dem Kunst-Objekt stieg. Nach Angaben der "Süddeutschen Zeitung" sei es die Gipswerkstatt Lorenzi in der Rue Racine 19 gewesen, die mit der Massenfabrikation begonnen hat.
Es entstand ein regelrechter Kult um die Totenmaske. Insbesondere in Künstlerkreisen und der Pariser Boheme wurde das Gesicht zu einem Kult-Gegenstand, der nahezu jede Wohnung und jedes Atelier schmückte. Als Einrichtungsgegenstand ist die Maske erst in Frankreich, dann in ganz Europa zu einem populären Deko-Objekt geworden. Als Muse inspirierte sie zahlreiche Schriftsteller und Künstler, die imaginäre Geschichten und Identitäten für das Mädchen entwarfen.

Darunter Rainer Maria Rilke, der einst als Sekretär für einen Bildhauer in Paris arbeitete und regelmäßig an den Werkstätten mit den ausgestellten Masken vorbeikam. In seinem Roman "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" erwähnt er das Frauengesicht, "weil es schön war, weil es lächelte, weil es so täuschend lächelte, als wüßte es." Laut BBC sei die Totenmaske erstmals 1899 in einem Werk aufgetaucht, in Richard Le Galliennes "Worshipper of the Image". Darin geht es um einen jungen Poeten, der sich von dem Abbild der Toten verzaubern lässt und daran zugrunde geht.
Ob der Gesichtsabdruck von einer Toten stammt, ist fraglich
In der Komödie "Eine Unbekannte aus der Seine" von Ödön von Horváth wird die junge Frau als Verführerin dargestellt, die Zeugin eines Raubüberfalls und Mordes wird. In der Novelle "Die Unbekannte" von Reinhold Conrad Muschler wird sie zu einem Waisenmädchen, das ertränkt, nachdem ein englischer Aristokrat sie verführt und dann verlassen hat. Neben Büchern steht das sagenumwobene Gesicht auch im Zentrum etlicher philosophischer Schriften und Gedichte. Der Philosoph Maurice Blanchot schrieb von einem Mädchen, "das jedoch belebt war durch ein so entspanntes, beglücktes Lächeln […], dass man hätte glauben können, sie sei in einem Moment großer Glückseligkeit ins Wasser gegangen.“

Der kulturelle Hype um den Abdruck des Jungmädchen-Kopfes hielt mehrere Jahrzehnte an. Erst danach kamen Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Geschichte auf. Heute gilt es als umstritten, ob der Gesichtsabdruck tatsächlich auf eine Tote zurückgeht oder ob es sich um das Werk eines Bildhauers handelt. Mehrere Experten, darunter Notfallmediziner, haben angemerkt, dass die Gesichter von Ertrunkenen nicht so friedlich wirken wie das der "Unbekannten aus der Seine". Das makellose Antlitz passe schlicht nicht zu einer Wasserleiche. Die BBC befragte dazu die Brigade Fluviale, die Pariser Flusspolizei. "Alle, die wir im Wasser finden, sind geschwollen, sie sehen nicht schön aus", sagte der Chef-Beamte Pascal Jacquin. Auch bei einem Suizid kämpfe der Körper bis zuletzt ums Überleben. Das sei den Gesichtern posthum anzusehen.
Ihre Identität und ihre Geschichte bleiben ein Rätsel
Hélène Pinet vom Rodin-Museums in Paris spricht von einem "Mysterium ohne Spuren". In einem Gespräch mit dem "Guardian" sagte sie: "Die Fakten waren so spärlich, dass jeder Schriftsteller auf dieses Gesicht projizieren konnte, was er wollte." Claire Forestier, eine Nachfahrin der Lorenzi-Familie, deren Werkstatt seit jeher für den Abdruck der Toten bekannt ist, berichtet von einem ungemeinen Interesse an der Geschichte der Unbekannten. Immer wieder schreiben Studenten Dissertationen, in denen sie den Fall untersuchen, erzählt sie dem "Guardian". In diesen Analysen sei die angeblich Ertrunkene "alles von einer argentinischen Sängerin bis zu einer französischen Bäuerin" gewesen.
"Noch mal leben": Bewegende Portrait-Fotos zeigen Sterbende vor und nach dem Tod

57 Jahre
Geboren am 19. Januar 1947
Erstes Porträt am 15. Januar 2004
Gestorben am 4. Februar 2004
Hamburg Leuchtfeuer Hospiz
Die Identität der jungen Frau bleibt ein Rätsel, doch in einem Punkt ist sich Claire Forestier sicher: "Es gibt einfach keine Möglichkeit, dass der Abguss von einer Leiche genommen wurde. Es wäre unmöglich, ein so perfektes Gesicht von einer toten Frau zu nehmen." Die runden Wangen und die glatte Haut deuten laut Forestier darauf hin, dass das Mädchen höchstens 16 Jahre alt gewesen sein könnte – und dass sie zum Zeitpunkt des Abdrucks am Leben war. Michel Lorenzi, ein weiterer Nachfahre des Maskenherstellers, vermutet sogar ein professionelles Model hinter der "Unbekannten aus der Seine". Die "Süddeutsche Zeitung" erwähnt eine Studie, deren Spuren zu einem Hamburger Gipsfabrikanten führen. Dieser soll das Gesicht seiner Tochter zum Vorbild für die Maske genommen haben.
Rettungspuppe bekommt das Gesicht der mysteriösen "Unbekannten"
Wie viel Wahrheit in der Legende tatsächlich steckt, bleibt offen. Heute ist das Frauengesicht auf der ganzen Welt präsent – in Form der Rettungspuppe "Anne", die in Erste-Hilfe-Kursen Tag für Tag wiederbelebt wird. Mitte der 1950er Jahre stellten sich Ärzte die Frage, wie man eine Herz-Druck-Massage üben kann. Wie die "Süddeutsche Zeitung" berichtet, habe Peter Safar, der Arzt, der die Wiederbelegungstechniken etabliert hatte, zunächst Freiwillige als Übungs-Kandidaten betäubt. Dann kam die Idee für eine Kunststoff-Puppe auf. Er wandte sich an Asmund Laerdal, einen norwegischen Spielzeugfabrikanten, der sich laut "BBC" auf die Herstellung von Kinderpuppen und Modellautos aus weichem Kunststoff spezialisiert hatte.

Die Rettungspuppe sollte möglichst realistisch aussehen, da Laerdal annahm, die Menschen würden dann motivierter an die Übung gehen. Nach Angaben des "Guardian" habe er die Figur bewusst weiblich gestaltet, weil der Norweger glaubte, Männer würden die Mund-zu-Mund-Beziehung nicht an einer Puppe ihres eigenen Geschlechts durchführen wollen. Laut "Deutschlandfunk" soll der Spielzeughersteller sich bei seinen Überlegungen an die Totenmaske erinnert haben, die damals im Wohnzimmer seiner Großeltern gehangen habe. Er übertrug das Antlitz der "Unbekannten" auf seine Erste-Hilfe-Puppe.
Anfangs habe die Kunststoff-Figur ihrem Vorbild sehr geähnelt, heißt es in einem Beitrag des Fachmagazins "British Medical Journal". Mittlerweile seien die Puppen, die noch immer von der Firma Laerdal hergestellt werden, um einiges abstrakter geworden. Seit 1960 simuliert die "Resusci-Anne" ("Resuscitation", englisch für "Reanimation") als lebensgroße Ganzkörperpuppe einen bewusstlosen Patienten, an dem Millionen Menschen weltweit Herz-Lungen-Massagen und Mund-zu-Mund-Beatmung üben. Deshalb wird die "Unbekannte aus der Seine" auch oft als meistgeküsste Frau der Welt bezeichnet.
Quellen: Arte, BBC, "British Medical Journal", "Deutschlandfunk", Museum für Sepulkralkultur, "New York Times", "Süddeutsche Zeitung, "The Guardian"