Weite Teile Niederösterreichs, Tschechiens, Rumäniens und Südpolens sind durch schier endlose Niederschläge überflutet. Deutschland trifft die ursächliche V ("Fünf") b-Wetterlage dieses Mal nur sehr begrenzt. Aber jederzeit könnte sich eine solche Wettersituation auch wieder in hiesigen Regionen wiederholen, wie beispielsweise 2002, als die Elbe großflächig über die Ufer trat.
Aber auch andere Wetterlagen können schwere Überschwemmungen verursachen, wie im Januar 2024 in Niedersachsen. An einer großen Katastrophe kamen die Bürger damals vorbei, gebannt ist die Gefahr jedoch nicht. Sie könnte jederzeit eintreten.
Was Heiko Warnecke vom Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz in Lüneburg am meisten Sorgen bereitet, sind die sogenannten Verwallungen. Das sind Dämme und Erdwälle, die keine offiziellen Deiche sind.
Seit der Sturmflutkatastrophe von 1962, bei der 340 Menschen ums Leben kamen, gibt es in Niedersachsen zwar ein eigenes Deichgesetz. Es legt fest, nach welchen Kriterien Deichanlagen geplant, gebaut, überprüft und instand gehalten werden müssen. Sie tragen dann das Prädikat "gewidmete Deiche". Im Gegensatz dazu gibt es für Verwallungen keine rechtlichen Regeln, etwa wie oft sie von Spezialisten kontrolliert und gepflegt werden müssen.
Gefahr bei Hochwasser: Viele Dämme sind von Bisamratten durchlöchert
Meist sind diese nicht zertifizierten Hochwasserschutzanlagen deutlich schmaler und niedriger als die offiziellen Deiche und damit weniger widerstandsfähig. Sie befinden sich häufig auf privatem Grund oder gehören den Kommunen. "Oft entsprechen sie nicht dem technischen Stand", sagt Heiko Warnecke, der den Bereich "Planung und Bau" leitet und somit genau weiß, wie ein guter Deich beschaffen sein sollte – und wie nicht.
Auf den Verwallungen etwa wachsen Büsche und Bäume, deren Wurzeln weit in den Boden hineinreichen. Dadurch sind sie schwer zu pflegen. Genauso schwer sei es, sie gegen Hochwasser zu verteidigen, erklärt der Wasserbauingenieur, weil niemand wisse, wo das Wasser durchsickere. Außerdem könnten Tiere wie Nutrias und Bisamratten den Deich unterminiert haben. Ebenfalls ein Problem: dass es vielfach keine befestigten Wege gibt, um Helfer, Sandsäcke oder anderes Material heranzuschaffen.
Insgesamt gibt es rund 610 Kilometer Hauptdeiche in Niedersachsen. Dazu kommen vermutlich noch einmal so viele Kilometer an nicht offiziellen Deichen, schätzt Warnecke. Es brauche eine Bestandsaufnahme aller Schutzbauwerke, fordert er: Wo verlaufen sie, und in welchem Zustand befinden sie sich?
Ein Kilometer Deich kostet mehrere Millionen Euro
Und noch eine weitere Frage stelle sich: Wie lassen sie sich an künftige Ereignisse anpassen? Jeden Erdwall zu einem zertifizierten Deich auszubauen, ist viel zu teuer. Ein Kilometer Deichbau kostet einen niedrigen einstelligen Millionenbetrag. Diese Kosten würden weder Privatleute noch Gemeinden stemmen können, sagt Warnecke, zumal diese ja erst einmal die im Frühjahr entstandenen Flutschäden abdecken müssten. Das bestehende niedersächsische Hochwasserschutzprogramm müsse für diesen Umbau finanziell deutlich aufgestockt werden.
Skeptisch blickt der Hochwasser-Experte auch auf die Zuständigkeiten. "Eine Kommune muss ja neben den Deichen auch Schulen, Kindergärten und Kläranlagen bauen", sagt Heiko Warnecke. "Gute Erfahrungen hat man mit den Deichverbänden gemacht, die entlang der großen Flüsse agieren", sagt Warnecke. In diesen können die Beteiligten ihre Erfahrungen austauschen und künftige Baumaßnahmen absprechen. Zudem haben die Verbände die Hoheit über die Unterhaltskosten.
Dabei gehe es nicht nur allein um die Höhe des Damms. Von wesentlicher Bedeutung sei der gesamte Querschnitt des Bauwerks, erklärt Heiko Warnecke, und so stellten sich folgende Fragen: "Ist der Deich breit genug? Sind die Böschungen ausreichend flach? Gibt es parallel zum Deich einen Deichverteidigungsweg, über den man Hilfsgüter direkt anliefern kann?"
Der Klimawandel macht alte Gewissheiten zur Makulatur
Und nicht zuletzt gilt es, das Problem Hochwasser auch auf lange Sicht im Blick zu behalten. "Wir erleben an manchen Orten, dass die jüngere Generation fragt: Wo soll hier denn jemals das Wasser herkommen?" Die Menschen leben womöglich schon 30 oder 40 Jahre auf ihrem Grundstück, nie gab es Probleme mit Hochwasser. Entscheidend wird sein, alle Bürger davon zu überzeugen, dass sich das in Zukunft ändert. Dass die Flut nun auch bis zu ihren Häusern vordringen kann. Und zwar nicht nur alle hundert Jahre, wie in veralteten Katastrophenszenarien und Bebauungsplänen behauptet: Diese Statistik kann nicht mehr für die Gegenwart gelten.
Hinzu kommt, dass Menschen schnell vergessen. Irgendwann wird es wieder lange Trockenperioden geben, in denen sich das Augenmerk dann auf die Wasserknappheit und nicht auf Überschwemmungen richtet. Aber gerade diese Zeiten gelte es zu nutzen, um das Land gegen künftige Fluten zu wappnen, mahnt der Experte: "Hochwasserschutz ist eine Daueraufgabe, wir dürfen nicht nachlassen."