VG-Wort Pixel

Die Jagd nach Higgs-Boson Für das Gottesteilchen wird es eng

Es soll aller Materie Masse verleihen und wird seit Langem fieberhaft gesucht: Nun haben Wissenschaftler des Cern neue Hinweise auf das Higgs-Boson gefunden.
Von Lea Wolz

Peter Higgs ist kein Mann der großen Auftritte. Interviews mit ihm sind selten, E-Mails beantwortet er in der Regel nicht. Wenn er doch Kontakt aufnimmt, dann schreibt er lieber, gute alte Briefe mit der Hand. In der Physikerwelt ist der 82-Jährige eher ein Außenseiter - doch vor fast 50 Jahren hatte er einen Gedanken, der den damals völlig unbekannten schottischen Physiker zu dem machte, was er heute ist: Namensgeber eines Elementarteilchens, nach dem die Wissenschaft seit Jahrzehnten fieberhaft sucht, und Nobelpreisträger in Wartestellung.

Die neuesten Ergebnisse aus dem Europäischen Teilchenforschungszentrum Cern in Genf dürften bei Higgs für freudiges Herzklopfen sorgen - denn sie lassen die höchste wissenschaftliche Auszeichnung näher rücken.

Demnach haben die Wissenschaftler ihr Ziel fast erreicht: Mit ihren Versuchen sind sie dem Higgs-Teilchen dicht auf der Spur. In dem 27 Kilometer langen Ringtunnel des "Large Hadron Colliders" (LHC) am Cern beschleunigen Physiker Protonen fast auf Lichtgeschwindigkeit. Beim Aufprall entstehen Energien wie kurz nach dem Urknall - und neue Teilchen, die wieder zerfallen und so Spuren hinterlassen. In diesem künstlich erzeugten Teilchenschauer vermuten Wissenschaftler, wenn auch sehr selten, ein Higgs-Boson. Da es schnell zerfällt, kann es nur indirekt über seine Zerfallsprodukte nachgewiesen werden.

Neue Hinweise auf Gottesteilchen

Nun haben die Cern-Forscher die neuesten Messdaten der beiden riesigen Detektoren "Atlas" und "CMS" präsentiert - und die Bereiche weiter eingegrenzt, in denen sie nach dem Higgs-Boson suchen müssen. Demnach liegt die Masse laut Atlas-Experiment am ehesten im Energiebereich zwischen 116 und 130 Gigaelektronenvolt (GeV). Die Daten des zweiten Detektors weisen auf ein Intervall zwischen 115 bis 127 GeV hin. Besonders häufig hätten die Forscher Spuren des Teilchens bei einer Masse von rund 125 GeV beobachtet, sagt die Physikerin Fabiola Gianotti vom Atlas-Experiment.

Grob konnten die Wissenschaftler die Masse des Higgs-Bosons schon vor den heute veröffentlichten Ergebnissen eingrenzen. Irgendwo zwischen 115 und 140 GeV müsse diese liegen, hieß es aus dem Cern im Sommer dieses Jahres. Zum Vergleich: Ein Proton ist etwa 1 GeV schwer.

Für endgültige Schlussfolgerungen sei es aber noch immer zu früh, so Gianotti. Denn um die Entdeckung des Higgs zu verkünden, reichen die Daten noch nicht aus. In der Physik muss mit 99,999-prozentiger Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass es sich um einen Zufall handelt - was so noch nicht möglich ist.

"Wir könnten immer noch einer statistischen Fluktuation aufsitzen", sagt auch der Physiker Joachim Mnich, der Mitglied des Direktoriums am Teilchenforschungszentrum Desy (Deutsches Elektronen-Synchrotron) in Hamburg ist und früher selbst am Cern geforscht hat. Die Auffälligkeit in den Daten wäre dann gleichsam ein statistischer Schluckauf.

Jahrzehntelange Suche

Das Standardmodell der Physik kennt 12 Elementarteilchen, aus denen Materie aufgebaut ist. Jedes Teilchen besitzt ein sogenanntes Antiteilchen, das die entgegengesetzte elektrische Ladung aufweist. Das Problem: Nach dem aktuellen Standardmodell irren sie alle masselos durch den Raum.

Wie sind also die unterschiedlichen Massen der Elementarteilchen zu erklären? Knapp eineinhalb Seiten, vier Formeln - aus mehr besteht die Veröffentlichung nicht, mit der der schottische Physiker dieses entscheidende theoretische Problem löste.

Higgs postulierte, dass es eine Art Feld gebe, das alles durchdringe und den Teilchen ihre Masse verleihe. Zu kompliziert? Um das Prinzip plastisch zu machen, vergleichen Physiker den Higgs-Mechanismus gerne mit einer Cocktail-Party, bei der alle Gäste gleichmäßig über den Raum verteilt sind, bis eine bekannte Persönlichkeit, zum Beispiel Margaret Thatcher, den Raum betritt. Sofort versammelt sich eine Traube Menschen um sie - und gibt ihr dadurch Masse.

"Wir schwimmen sozusagen in dem Ozean des Higgs-Feldes", sagt Physiker Mnich. "Doch das Feld an sich ist schwer nachzuweisen. Das gelingt nur über seine Manifestation, das sogenannte Higgs-Boson." Dieses Teilchen wiederum wäre ein Beweis für das Feld, das allen anderen Teilchen wie Quarks und Elektronen, aus denen Materie besteht, ihre Masse verleiht. Und damit letztlich auch dafür sorgt, dass es das Universum und damit auch uns überhaupt gibt - was dem Higgs den Namen "Gottesteilchen" einbrachte.

Soweit die Theorie. Doch gesichtet wurde das ominöse Higgs bis jetzt noch nicht. Seit Jahrzehnten fahnden Physiker in aller Welt nach geheimnisvollen Teilchen, dem letzten fehlenden Puzzlestück im Standardmodell der Teilchenphysik. Immer größere Teilchenbeschleuniger haben sie für ihre Suche gebaut und die Partikel mit immer höherer Energie kollidieren lassen. Milliarden flossen in den Bau des LHC.

"Ein gewaltiger Schritt"

Nun könnten sich die Investitionen ausgezahlt haben. Ganz gelöst haben die Physiker das letzte Rätsel der Elementarteilchenphysik zwar noch nicht - doch sie sind dem aufregend nahe gekommen. "Die heute präsentierten Entdeckungen sind ein gewaltiger Schritt. Die Hinweise, dass es das Higgs-Teilchen gibt, verdichten sich immer mehr", sagt Mnich. "Wir können es zwar noch nicht wirklich erkennen, aber das Bild wird immer schärfer."

Dabei macht es das Higgs den Forschern alles andere als leicht. "Von der Masse her scheint sich das Teilchen in einer Ecke zu verstecken, wo ein Nachweis besonders kompliziert ist", sagt Mnich. "Um es zweifelsfrei nachweisen zu können, sind extrem viele Daten nötig." Rund 400 Billionen Teilchenkollisionen haben die Forscher bis jezt analysiert.

Doch was, wenn es das Higgs-Teilchen gar nicht gibt? "Das wäre auch eine Revolution", sagt Mnich. "Dann hätten wir über 40 Jahre lang mit dem Standardmodell die falsche Fährte verfolgt und müssten über neue Theorieansätze nachdenken, um die fundamentalen Fragen der Physik zu klären."

Im nächsten Jahr wird der LHC wohl noch mehr Daten liefern, denn die Anzahl der Kollisionen soll verdoppelt werden. "Wenn es so weitergeht, wie in diesem Jahr, werden wir Ende 2012 wissen, ob es das Gottesteilchen gibt", sagt Mnich. Der Nobelpreis dürfte Peter Higgs dann wohl sicher sein.

Mehr zum Thema

Newsticker