Wild, laut, ungeduldig, aggressiv - so werden viele Jungen von ihrer Umgebung wahrgenommen. Lehrer und Eltern empfinden sie dann oft als störend. Aber sind sie auch krank? Immer mehr Kinder und Jugendliche, vor allem Jungen, bekommen die ärztliche Diagnose: ADHS - Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung. In den vergangenen Jahren war laut Barmer-GEK-Arztreport 2013 insgesamt ein Viertel der männlichen Kinder und Jugendlichen zumindest einmal mit einer solchen Diagnose konfrontiert. Viele bekommen Psychopharmaka, obwohl diese vorwiegend auf Symptome, nicht aber auf Ursachen abzielen.
"Wir haben hier amerikanische Verhältnisse", sagt der Chef des Hannoveraner Forschungsinstituts Iseg, Friedrich Wilhelm Schwartz, das die Studie erstellt hatte. Früher habe ADHS als in den USA besonders verbreitet gegolten - heute habe Deutschland nachgezogen. "Jeder erfahrene Vater oder Pädagoge weiß, dass Jungs ein lebhafteres Bewegungsbild haben", meint er. Doch in der Schule gebe es dann oft Probleme. Der Druck, den sich auch die Eltern ausgesetzt sähen, wachse. Schwartz glaubt nicht, dass Ritalin oder andere Psychopharmaka auf Kassenkosten dann tatsächlich oft Mittel der Wahl sind. "Ist es wirklich die Aufgabe einer Krankenkasse, Kinder vorübergehend ruhigzustellen?"
Eine Frage des sozialen Hintergrundes
Allein im Jahr 2011 hatten 750.000 Menschen die Diagnose ADHS - ein Plus von 49 Prozent binnen fünf Jahren. Bekamen 2006 noch 32.000 der 10- bis 14-Jährigen Ritalin verordnet, waren es fünf Jahre später bereits 42.000. Von 2006 bis 2011 war der Geburtsjahrgang 2000 am stärksten betroffen - mit mehr als 19 Prozent der in dem Jahr geborenen Jungen. Die Forscher rechneten ihre Daten weiter hoch - und kamen zu einem Ergebnis, das überrascht: Bei 25 Prozent der männlichen Jugendlichen bis zur Vollendung des 22. Lebensjahres wurde mindestens einmal ADHS diagnostiziert. Bei den Mädchen und jungen Frauen waren es 10 Prozent.
Überproportional betroffen sind nach Angaben der Forscher Kinder besonders junger Eltern, Kinder von Eltern mit geringerem Bildungsniveau - und Kinder von Geringverdienern. "In bildungsnahen Haushalten wird darüber eher kritisch nachgedacht", meint Schwartz.
Würzburg als "Welthauptstadt" bei ADHS
Nicht überall wird gleich oft ADHS diagnostiziert und Ritalin gegeben. In keiner Region gebe es so hohe Diagnose- und Verordnungsraten wie in Unterfranken - im Raum Würzburg. In den anderen Regionen Deutschlands bekamen 4 von 1000 Menschen 2011 mindestens einmal Ritalin - in Unterfranken waren es 8,4 von 1000. 18,8 Prozent der Jungen zwischen 10 und 12 bekamen hier das Mittel, in den übrigen Regionen nur 11,3 Prozent. Für Barmer-GEK-Vize Rolf-Ulrich Schlenker ist Würzburg sogar die "Welthauptstadt" bei ADHS. "Letztlich bleiben die Ursachen etwas im Dunkeln", sagt er. Doch Schlenker verweist darauf, dass es hier besonders viele Kinder- und Jugendpsychiater gebe - und einen Forschungsschwerpunkt ADHS an der Uniklinik.
Insgesamt gibt es 13 Kreise in Deutschland mit auffällig hohen Diagnoseraten. Sechs davon sind in Unterfranken, Mannheim ist betroffen, drei Kreise liegen aber zum Beispiel auch in Teilen von Rheinland-Pfalz. Schwartz meint: Hier gebe es wohl besonders viele Kinder- und Jugendpsychiater.