Kopfwelten Gewalt ist nie harmlos

Nach dem Amoklauf in Winnenden sind "Killerspiele" wieder in der Diskussion. Psychologen untersuchen schon länger, wie stark uns Ego-Shooter und Brutalität auf der Leinwand beeinflussen. Ihr Ergebnis: Medial vermittelte Gewaltszenen lassen uns abstumpfen, unser Mitgefühl für den Schmerz anderer geht zurück.

Die öffentliche Debatte über das Massaker im schwäbischen Winnenden ist in vollem Gange. Warum hat Tim K. so erbarmungslos getötet? Warum hat niemand gemerkt, welches Unheil sich zusammenbraute? Ein Brennpunkt der Diskussion auch diesmal wieder: Gewaltvideos und so genannte Ego-Shooter, bei denen sich Computerspieler aus der Perspektive eines Bewaffneten in feindlicher Umwelt behaupten müssen – gegen Terroristen, Zombies, Aliens, Roboter. Auch Tim K. hat Ego-Shooter auf dem Computer gehabt und gespielt. Kann es also wirklich sein, dass das Töten die virtuelle Welt verlässt und eine Blutspur ins wahre Leben zieht?

Suche nach einem Sündenbock

Kaum erwähnte zum Beispiel bei den Fernseh-Debatten der vergangenen Tage jemand solche Gewaltspiele, warf ein zumeist deutlich jüngerer Diskutant ein, hier werde ja wieder nur ein leicht auszumachender Sündenbock gesucht. Und zumindest dieser Einwand ist ja berechtigt: Millionen ballern vor ihren Monitoren, wie es vermutlich auch Tim K. getan hat. Doch anders als er bringen sie niemanden um.

Aber was folgt daraus? Ist Gewalt auf dem Bildschirm schon deshalb unproblematisch, weil ganz sicher niemand allein vom virtuellen Schießen zum realen Amokläufer wird? Oder anders gefragt: Wären solche Spiele oder auch bluttriefende Videos wirklich erst dann von Übel, wenn sich von ihnen eine direkte Linie bis in die Albertville-Realschule von Winnenden verfolgen ließe?

Frank Ochmann

Der Physiker und Theologe verbindet als stern-Redakteur natur- und geistes-
­wissenschaftliche Interessen und befasst sich besonders mit Fragen der Psychologie und Hirnforschung. Mehr auf seiner Homepage unter www.frank-ochmann.info.

Es scheint sinnvoll, sich zwei Grundsätze über menschliches Verhalten ins Gedächtnis zu rufen. Erstens: Gewalt, auch massive physische Gewalt, ist für jeden Menschen eine Handlungsalternative, auch wenn sie in den allermeisten Fällen sehr unwahrscheinlich ist. Trotzdem steckt tief in allen von uns eine Versuchung, die von den auf solche Fragen spezialisierten Psychologen Martin Daly und Margo Wilson aus Toronto so formuliert wurde: "Seinen Gegenspieler zu töten ist die ultimative Konfliktlösungstechnik. Und unsere Vorfahren entdeckten das lange, bevor sie Menschen wurden."

Mit Gewalt ist grundsätzlich zu rechnen

Dem kultivierten Homo sapiens unserer Tage ist diese Einsicht oft überaus unangenehm. Wie passt die latente Gewalt zur Kunst von Beethoven und Breughel, wie zur Mitmenschlichkeit von Gandhi und Mutter Teresa? Doch weitaus schmerzlicher könnte es am Ende sein, die – neben vielen anderen Eigenschaften –schlummernde Aggression in uns ganz und gar zu verdrängen und zu glauben, einer müsse erst völlig von Sinnen sein, um töten zu können. Mit der Gewalt ist beim Menschen grundsätzlich zu rechnen.

Zweitens: "Abgucken" und Wiederholen gehören zu den wichtigsten Mechanismen sozialen Lernens. Schon als Baby machen wir nach, was wir um uns herum an Verhaltensweisen vorfinden. Später im Leben halten wir einen Film oder einen Roman besonders dann für gelungen und spannend, wenn wir uns mit den beschriebenen Figuren identifizieren und uns in sie hineinversetzen können. Auch das hat mit dem in uns angelegten Kopieren von Gefühlen und Verhaltensweisen zu tun. Auf die eine oder andere Art wollen wir immer sein wie XY. Fragt sich nur, was unser jeweiliges Vorbild, die Wunschversion von uns selbst, kennzeichnet und warum es genau diese Eigenschaften sind, die uns anziehen.

Dass Gewaltvorbilder auf uns zumindest kurzfristig nicht ohne Wirkung bleiben, steht inzwischen außer Zweifel, wie Untersuchungen zeigen. Offenbar gibt es sogar einen Gewöhnungseffekt. Denn das wiederholte Erleben von Gewaltspielen auf dem Monitor vermindert Hirnstromsignale, die für eine innere Ablehnung von Gewalteindrücken stehen.

Kann es folgenlos sein, wenn wir Mitgefühl verlieren?

Der vielleicht wichtigste bislang beobachtete Effekt: Die vermeintlich zur Unterhaltung erlebte Gewalt verringert die Sensibilität gegenüber den mit Schmerz und Leiden verbundenen Gefühlen anderer. Dazu gibt es inzwischen eine Fülle von Studien, ohne dass deshalb schon klar wäre, wie genau es zu dieser Wirkung kommt. Auch die ganz normale "Empathie" – die Fähigkeit, sich auch unbewusst in andere hineinversetzen zu können –, wirft noch etliche komplizierte Fragen auf. Ihre herausragende Bedeutung für jeden Moment unseres sozialen Umgangs aber ist unumstritten.

Kann es demnach folgenlos bleiben, wenn wir Mitgefühl verlieren? Eine gerade publizierte Untersuchung zeigt, wie sich das helfende Verhalten von Probanden unter dem Einfluss von Gewaltmedien verändern kann. Sowohl nach einem entsprechenden Computerspiel als auch nach einem aggressionsträchtigen Kinobesuch gab es bei der Hilfsbereitschaft einen deutlichen Unterschied zu denen, die sich gewaltfrei unterhalten hatten. Wer Gewaltszenen ausgesetzt worden war, zeigte eine auffallend schwache Neigung, vermeintlich Verprügelten oder Verletzten zu helfen, die für das Experiment schauspielerten.

Werden Gewaltkonsumenten darum automatisch zu "schlechteren" Menschen oder gar zu einer akuten Gefahr für Leib und Leben anderer? Sicher nicht. Unser Sozialverhalten ist viel zu komplex, um auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden zu können. Doch das reicht nicht für eine Entwarnung. Denn trotzdem besteht die Gefahr einer auf Dauer negativen – nämlich "antisozialen" – Beeinflussung. Wie sollte die denn gänzlich auszuschließen sein, wenn beispielsweise kommerzielle Werbung so gut wirkt, dass Unternehmen bereit sind, selbst in schlechten wirtschaftlichen Zeiten noch Millionenbeträge dafür auszugeben?

Spuren im Denken und Verhalten

Das Beste, was sich aus dieser Perspektive über Gewalt in Computerspielen oder Filmen sagen lässt, ist das: Vielleicht schadet sie wirklich nicht, oder wenigstens nicht auf Dauer. Doch auch das muss bezweifelt werden. Eine Untersuchung zum Beispiel, die vergangenes Jahr von deutschen Psychologen publiziert wurde, lässt bei 14-Jährigen die Spuren solcher Medien noch nach zwei Jahren im Denken und Verhalten erkennen, auch wenn andere Risikofaktoren berücksichtigt werden. Harmlos ist Gewalt jedenfalls nie, oder sie ist keine Gewalt.

Gibt es dann einen einzigen plausiblen Grund, sie auch nur einen Tag länger zu verteidigen oder als modischen Trend in hippen Medien abzutun, den "die Alten" nun mal nicht verstünden? Außer einem möglichen kurzfristigen Kick hat sie schlicht keinen erkennbaren Nutzen – wenn wir vom Profit für die Macher und Vermarkter einmal absehen.

Wer darum Gewalt in den Medien verteidigt oder zumindest mit einem Urteil warten möchte, bis die Datenlage noch ein paar Prozentpunkte verlässlicher ist, verhält sich im Grunde wie einer, der Tabakkonsum mit dem Argument rechtfertigt, es erkranke ja durchs Rauchen keineswegs jeder gleich an Krebs. Stimmt. Aber lassen wir es darum zu, dass an Kinder und Jugendliche Zigaretten verteilt werden?

Literatur

Bartholow, B. D. et al. 2006: Chronic violent video game exposure and desensitization to violence: Behavioral and event-related brain potential data, Journal of Experimental Social Psychology 42, 532–539

Bushman, B. J. & Anderson, C. A. 2009: Comfortably Numb – Desensitizing Effects of Violent Media on Helping Others, Psychological Science 20, 273-277

Bushman, B. J. & Anderson, C. A. 2001: Media Violence and the American Public, American Psychologist 56, 477-489

Carnagey, N. L. et al. 2007: The effect of video game violence on physiological desensitization to real-life violence, Journal of Experimental Social Psychology 43, 489–496

Daly, M. & Wilson, M. 1988: Homicide, New York: Aldine de Gruyter

Ferguson, C. J. 2007: Evidence for publication bias in video game violence effects literature: A meta-analytic review, Aggression and Violent Behavior 12, 470–482

Hopf, W. H. et al. 2008: Media Violence and Youth Violence – A 2-Year Longitudinal Study, Journal of Media Psychology 20, 79–96

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