"Ich fühlte mich wie ein Alien", sagt Clara (Name von der Redaktion geändert). Schon als Kind habe sie sich irgendwie anders als die anderen gefühlt. Nie habe sie den Eindruck gehabt, anerkannt, gewünscht oder geliebt zu sein. Sie war beherrscht von tiefer Einsamkeit - ein Gefühl, das bereits im Alter von zwölf Jahren Selbstmordgedanken in ihr auslöste. "Mit 14 bin ich schon immer vor der Suizidberatungsstelle auf und ab gegangen", sagt sie. Reinzugehen habe sie sich nicht getraut. Ein paar Jahre später, der erste Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Dort geschah es: Clara presste sich plötzlich eine brennende Zigarette auf den Arm. "Der innere Druck war zu groß", erzählt die heute 34-Jährige.
Anschließend sei sie entsetzt zu ihrer Therapeutin gelaufen, die ihr schlicht riet, das nächste Mal vorher zu kommen. Diese Aussage war für Clara so unfassbar wie die Brandwunde, die sie sich selbst zugefügt hatte. Denn so etwas, dachte sie damals, werde ihr nie wieder passieren.
Befreiung durch Schmerz
Laut Schätzungen von Experten sind es etwa zwei bis vier Prozent der Bevölkerung zwischen 15 und 35 Jahren, deren Gefühlschaos sie zu selbstverletzendem Verhalten (SVV) treibt. Menschen, die Wunden oder Schmerzen brauchen, um sich zu spüren, zu bestrafen oder ein unerträgliches seelisches Leid in andere Bahnen zu lenken. Dafür schneiden sie sich mit Rasierklingen oder Scherben in die Haut, reißen sich die Haare aus, stechen sich mit Nadeln, verätzen Teile ihres Körpers mit Chemikalien oder verbrennen sich mit Zigaretten und Kerzen. Kurzfristig fühlen sie Befreiung. Langfristig kommen Selbstmordgedanken auf.
Selbstverletzendes Verhalten, Minderwertigkeitsprobleme, Angst- und Essstörungen, Depressionen, Drogensucht und Identitätsprobleme gehen häufig Hand in Hand mit einer so genannten "Emotionalen instabilen Persönlichkeitsstörung nach dem Borderline Typ", wie Doktor Armbrust, Chefarzt der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik in Bad Bramstedt, erklärt.
Nachdem die Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS) jahrzehntelang als Krankheit nicht wahrgenommen wurde, gehört sie heute zu den am häufigsten diagnostizierten Störungen, und das, obwohl die Diagnose schwer zu treffen ist. "Weil es ein so buntes Bild ist und die Betroffenen dazu neigen, dies zu verstecken", erläutert Armbrust. Selbstverletzung könne eines der Anzeichen für BPS sein, müsse es aber nicht. Nicht jeder, der sich verletzt, ist ein Borderliner und nicht jeder Borderliner malträtiert sich. Dennoch, bei 80 Prozent sei dies der Fall.
Mögliche Ursachen
Menschen, die den Drang verspüren, sich selbst zu verletzen, haben oftmals das Gefühl, nicht geliebt zu werden, sie haben Angst vor dem Alleinsein, aber auch vor zuviel Nähe. Allgemein sind sie unsicher im Umgang mit anderen Menschen und mit sich selbst und steigern sich in negative Gedanken hinein. Die "Behaviorale Theorie" nennt drei mögliche Ursachen dafür, wie etwa die Veranlagung, auf gewisse Situationen ungewöhnlich heftig zu reagieren. Auch das soziale Umfeld kann dazu beitragen, wenn es den Betroffenen unmöglich gemacht hat, ihre Gefühle richtig einzuordnen. Traumatische Erlebnisse, wie Missbrauch in der Kindheit, sind ebenfalls eine mögliche Ursache.
Gleichzeitig können biochemische Prozesse eine Rolle spielen. Der Serotoninspiegel beispielsweise, ein Hormon, das bei depressiven und ängstlichen Patienten oftmals in verringerter Konzentration vorkommt.
Ab wann ist es krankhaft?
"Zunächst muss man ganz klar unterscheiden, ob der Drang, sich zu verletzen, pathologisch bedingt ist oder in der Jugendgeneration gerade als chic gilt", sagt der Psychologe. Autoaggressives Verhalten sei nicht zwangsläufig ein Symptom für psychische Erkrankungen. Er gibt die Experimentierfreudigkeit der Jugendlichen zu bedenken, erinnert auch an kulturell geprägte Situationen, wie Winnetou und Old Shatterhand, die sich in die Arme schlitzten, um Blutsbrüderschaft zu schließen. Die Quantität solcher Handlungen mache die Pathologie aus, erklärt Armbrust: "Der Unterschied ist, ob dies dreimal im Jahr oder dreimal am Tag passiert."
Bei Clara wurde BPS erst Jahre nach dem Vorfall mit der Zigarette festgestellt. Direkt danach aber begann schon ihre Sucht nach Schmerz. Sie benutzte fast ausschließlich Rasierklingen. "Das half am besten, um mich zu bestrafen oder auch, um Hilfe zu bekommen." Mit der Zeit habe sie sich immer öfter schneiden wollen, immer tiefer, immer mehr.
Heilung ist möglich
Laut Armbrust galten solche Patienten noch vor etwa 20 Jahren als untherapierbar. Dies hat sich inzwischen verändert. Eine Studie von niederländischen Wissenschaftlern der Universität Leiden, deren Ergebnisse in Kürze im British Journal of Psychiatry publiziert werden, belegt den Erfolg der "Kognitiven Behavioralen Therapie" (KBT) bei 90 Betroffenen. Dabei gehen die Patienten durch Gespräche mit Therapeuten den Ursachen ihrer Handlungen auf den Grund und entwickeln Lösungsstrategien, so genannte Skills, um dem nächsten Lockruf der Klingen zu entkommen.
Die Wissenschaftler fragten die Patienten, welche Tätigkeiten ihnen Spaß machen, sie beruhigen oder ablenken könnten, wenn sich das Bedürfnis zur Selbstfolter aufbaut. Eine junge Frau erkannte, dass ein Waldspaziergang sich positiv auf ihr Gemüt auswirkt und somit den Strudel von bedrückenden Gedanken verscheucht. Eine andere Betroffene bemerkte, dass es sie beruhigt, wenn sie ihre Katze auf den Schoß nimmt und streichelt. Das weiche Fell und die Körperwärme zu spüren und zu beobachten, wie das Tier bedächtig die Augen schließt und wieder öffnet, die Nähe der Katze bewahrt sie vor negativen Emotionen.
Tee und Tanz gegen das Verlangen nach Schmerz
Ob Kinderbücher lesen, in einem bequemen Sessel mit einer Tasse Tee in der Hand, nach der Arbeit alte Filme schauen oder wild durch den Raum tanzen: Sogenannte Skills machen es möglich, dem selbstzerstörerischen Drang aus dem Weg zu gehen. Oftmals bedeutet ein Skill allerdings auch Schmerz, nur weniger blutig. Kalt oder heiß duschen etwa oder ein Gummiband gegen die Haut zwirbeln zu lassen.
Die niederländische Studie ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass intensiver Gesprächskontakt mit Anleitungen zum positiven Denken den Menschen die Möglichkeit gibt, sich innerlich zu ordnen, den Kreislauf um Selbstmordgedanken zu durchbrechen und andere Problemlösungsstrategien zu finden. Während die Kognitive Therapie bei unterschiedlichen Psychosen angewandt wird, wurde die "Dialektisch Behaviorale Therapie" (DBT) speziell für die Borderliner entwickelt. Sie umfasst neben den Gesprächen wöchentliche Protokolle, Telefonkontakt zum Therapeuten, sowie ein Fertigkeitstraining für den Umgang mit Skills.
Frauen suchen eher professionelle Hilfe
In einem sind sich alle Experten einig: Je früher eine Persönlichkeitsstörung in Angriff genommen wird, desto besser sind die Heilungschancen. Auffällig ist, dass sich überwiegend Frauen in Therapie begeben. "Männer bleiben länger unerkannt, was wahrscheinlich daran liegt, dass sie das Problem lange mit Alkohol kompensieren können", erklärt Armbrust. Es sei für einen Mann gesellschaftlich akzeptierter, sich öfter mal mit Freunden "die Kante zu geben". Doch bedeute auch Alkoholismus nicht zwangsläufig eine psychische Störung.
Clara greift seit drei Jahren nicht mehr zur Rasierklinge. Geholfen haben ihr neben Therapien der Austausch innerhalb einer Selbsthilfegruppe und auch, dass ihre Freunde von der Krankheit wissen. Und die Familie? "Sie haben meine Narben gesehen." Sie wissen, dass sie sich verletzt habe, dass es ihr jetzt besser gehe. "Wir reden nicht darüber", sagt sie.