Das Labor von Gudrun Mernitz und Beate Cuypers erinnert ein bisschen an den Kühlschrankinhalt einer heruntergekommenen Studenten-WG. In kleinen Petrischalen glibbern graublaue Substanzen. In Glasbechern wächst pelziger Rasen auf schmierigen Gels. Ekel erregender grüner Schleim blubbert in Kolben, die auf einem Shaker ständig gerüttelt werden.
Doch was da im Greifswalder Biotechnikum in hunderten Zuchtschalen vegetiert, ist in Wirklichkeit das Kapital der beiden Mikrobiologinnen, die sich zu Jahresbeginn mit einer ungewöhnlichen Geschäftsidee selbstständig gemacht haben: Sie handeln mit Extrakten, die sie zuvor aus Mikroorganismen aus dem Meer gewonnen haben.
Was Extrakte aus dem Meer bewirken können
Wegen ihrer teilweise extremen Lebensbedingungen sind die meisten marinen Organismen unter Laborverhältnissen nicht kultivierbar. Doch es ist mitunter möglich, mit genomischer Analyse die Proteinmuster ihrer außergewöhnlichen Wirkstoffe zu erkennen.
Das geschah zum Beispiel bei der Untersuchung eines Tiefsee-Röhrenwurms, der am Tiefseegrund an hydrothermalen Quellen lebt, den so genannten Black Smokers. Forscher fanden in den Chitinhüllen der Würmer ein Organ mit einem Bakterium, das den Wurm mit Kohlendioxid, Sauerstoff und Schwefelwasserstoff "füttert". Zugleich wurde ein Wirkstoff entdeckt, der sicherstellt, dass nur dieses eine Bakterium überlebt. Forscher wollen sich nun dieses antibakteriellen Wirkstoffes in der Medizin bedienen.
Völlig neue Möglichkeiten bietet auch ein Gewebekleber, der auf der Grundlage von Miesmuschelextrakten hergestellt wurde. Rostocker Wissenschaftler selektierten den Wirkstoff, mit dessen Hilfe sich die Muscheln außerordentlich fest auf Unterlagen setzen können. Vernetzt mit dem Enzym Laccase, das mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen hergestellt wird, entstand eine Art Gewebekleber, mit dem zum Beispiel kleinste Knochensplitter wieder angesetzt werden könnten.
Erstaunliche Wirkungen lassen sich damit bei der Wundbehandlung, zum Beispiel nach Verkehrsunfällen erzielen, wie Tierversuche in Greifswald ergaben. Die Forscher bedeckten eine heftig blutende Wunde an der Leber eines Meerschweinchens mit einer Zellstofffolie, die zuvor mit einem Granulat des neuen "Kleberwirkstoffs" getränkt wurde. Das Ergebnis: Die Wunde schloss sich bereits nach zwei Minuten. Bislang konnten derartige Blutungen erst wesentlich später gestillt werden, was zu einem beträchtlichen Blutverlust führte. Das patentrechtlich geschützte Verfahren wird inzwischen von mehreren Firmen getestet.
Zum Berufsalltag der Existenzgründerinnen gehören regelmäßige Expeditionen zu den Ostsee- und Bddenstränden in Mecklenburg-Vorpommern. "Dort sammeln wir Wasser- und Sandproben, aus denen wir später Abstriche von diversen marinen Algen oder Pilzen gewinnen", erklärt Mernitz. Zunächst würden die Vorkulturen in Petrischalen extrahiert, um anschließend die Reinkulturen zu vermehren und aus ihnen bestimmte Wirkstoffe zu gewinnen.
Gigantisches Repertoire an Mikroorganismen
Das Repertoire noch unentdeckter Mikroorganismen sei gigantisch, sagt die Wissenschaftlerin. Forscher schätzten allein die Zahl der Algenarten weltweit auf etwa zehn Millionen Spezies. Und die Chance, aus Meereskulturen neue Extrakte zu gewinnen, sei etwa 170 Mal größer als bei Landorganismen.
Zum Angebot der Ressourcenzentrum Marine Organismen GmbH in Greifswald gehören inzwischen etwa 2000 Stämme. Nicht alle Funde hätten bereits einen Namen, sagen die Spezialistinnen, die ihre neuen Funde regelmäßig auf Messen und Konferenzen vorstellen. Das Interesse der Industrie an innovativen Wirkstoffen sei riesig, sagt Mernitz. Vor allem Pharmakunden aus Deutschland, Österreich und Spanien orderten bereits erste Proben.
Anpassung an extremste Lebensbedingungen
Was die marinen Organismen so interessant mache, seien ihre besonderen Lebensverhältnisse, sagt die Greifswalder Professorin für pharmazeutische Biologie, Ulrike Lindequist. Sie lebten oft in begrenzten Lebensgemeinschaften, seien unterschiedlichen Licht-, Salz- und Druckverhältnissen unterworfen und meist an niedrige Temperaturen angepasst. Deshalb verfügten sie über bioaktive Substanzen, die zum Beispiel geeignet seien zum Austausch von Informationen, zur Feindabwehr oder zur Anpassung an extremste Lebensbedingungen.
Weltweit sind inzwischen etwa 6000 chemische Substanzen aus Schwämmen, Korallen, Muscheln, Würmern, Mantel- und Nesseltieren, Stachelhäutern, Bakterien und Algen identifiziert worden, mehr als 300 davon in Mecklenburg-Vorpommern. Dass die Extrakte aus der "Blauen Apotheke Meer" gerade in der Medizin kleine Wunder bewirken könnten, haben Greifswalder Forscher schon unter Beweis gestellt. Aus der Biomasse einer Mikroalge der Ostsee zum Beispiel extrahierten die Pharmazeuten eine Substanz, die - als Creme auf die Haut aufgetragen - antiseptisch und trotzdem schonend wirkt.
Mittel gegen lebensgefährliches Bakterium
Experimente an Mäuseohren und Rindereutern zeigten, dass zum Beispiel die gegen Antibiotika resistenten Stämme des Bakteriums Staphylococcus aureus (MRSA) damit deutlich zurückgehalten werden könnten. MRSA gilt als ein lebensgefährliches Bakterium, das vor allem auf Intensivstationen von Krankenhäusern immunschwache Patienten befällt. Studien in den USA und China sollen nun die kommerzielle Vermarktung des Greifswalder Patentes vorbereiten.