Forschung in der Arktis Sieben Monate auf der Eisscholle

Für ein Klimaforschungsprojekt ließ sich der Potsdamer Wissenschaftstechniker Jürgen Graeser buchstäblich durch die Arktis treiben: Zusammen mit 20 russischen Forschern verbrachte er den Winter auf einer Eissscholle. Und machte unter anderem die Bekanntschaft streunender Eisbären.

Plötzlich knackt es bedrohlich neben dem kleinen Holzhaus. Die Eisscholle ist gebrochen, zehn Meter breit klafft die Spalte, darunter nichts als arktischer Ozean. Richtig dramatisch fand Jürgen Graeser diese Situation allerdings nicht. Er musste schließlich auch mit Temperaturen um minus 40 Grad und umherstreifenden Eisbären fertig werden. Nach sieben Monaten auf einer drei mal fünf Kilometer großen, durch die Arktis treibenden Eisscholle ist der Potsdamer Wissenschaftstechniker vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) jetzt zurückgekehrt. Gemeinsam mit 20 Russen lebte der 49-Jährige auf der Scholle und unternahm für die Wissenschaft überaus bedeutende Experimente etwa zur Ozonschicht. Russische Klimaforscher arbeiten seit 1937 auf Eisschollen. Das AWI nutzte die Chance, als die Driftstation für das Internationale Polarjahr erstmals für Ausländer geöffnet wurde.

"Die Arktis ist eine Schlüsselregion für das Erdklima, aber immer noch ein weißer Fleck auf der Datenlandkarte", betonte Projektleiter Klaus Dethloff anlässlich der Rückkehr Graesers. "Nun können wir die Unsicherheiten in den Klimamodellen deutlich verringern." Fast täglich ließ Graeser während der Expedition einen mit Helium gefüllten Fesselballon bis zu 400 Meter hoch steigen, um Temperatur, Feuchte, Wind und Luftdruck zu messen. Mehrmals in der Woche schickte er zudem eine Ozonsonde mit Hilfe eines Ballons 30 Kilometer hoch. Diese Daten werden laut AWI auch genaueren Aufschluss über die vom Menschen verursachten Zerstörungen der Ozonschicht geben.

Erste Auswertungen der Messergebnisse haben nach Dethloffs Angaben bereits erhebliche Abweichungen von einigen Modelldaten gezeigt. So seien am Boden zwei Grad höhere Temperaturen gemessen worden als bisher in Modellen angenommen.

Vier Monate Polarnacht

"Freizeit hatte ich praktisch keine", erzählte Graeser, der gar nicht so blass aussieht, wie man vermuten könnte. Schließlich herrschte während der ersten vier Monate im Bereich der Station schwarze Polarnacht. "Ich habe meine Umgebung ordentlich ausgeleuchtet, dann war es nicht so schlimm." Erst gewöhnen musste sich der 49-Jährige auch an die klirrende Kälte. "Anfangs habe ich mich bei minus 20 Grad kaum hinausgewagt, später konnten mir auch minus 40 Grad nichts mehr anhaben." Schnell schlüpfte Graeser dann in den doppelt gefütterten Overall und blieb nur so lange wie unbedingt nötig draußen.

Dort traf er dann auch immer wieder auf Eisbären, die sich sogar bis an sein Holzhaus heranpirschten. "Mit Leuchtmunition konnten wir sie immer vertreiben." Wie seine Expeditionskollegen musste Graeser auch den Zustand der im Bereich der Station gerade einmal 1,40 bis 2,80 Meter dicken Eisscholle kontrollieren. Sie wies gelegentlich bis zu 30 Meter breite Spalten auf. "Aber die froren immer schnell wieder zu, wie auch der Riss in der Nähe meines Hauses." Auch in der Küche half der Wissenschaftstechniker: "Das Essen war gut, aber einfach." Von Tütensuppen mussten sich die Forscher nicht ernähren, "zuletzt waren aber unter anderem frische Eier aus".

Endlich ein Vollbad

Die Suche nach einer geeigneten Scholle war laut Graeser das Schwierigste an der Ende September 2007 gestarteten "Drift-Expedition NP-35". "Die Meereisbedeckung der Arktis war so gering wie noch nie seit den ersten Aufzeichnungen 1979", erklärte Dethloff. "Warum sich der Expeditionsleiter für diese Scholle entschied, weiß ich bis heute nicht - sie hat jedenfalls gehalten", sagt Graeser.

Nachdem Graeser vor wenigen Tagen mit einem Polarflugzeug von der Eisscholle ins etwa 800 Kilometer entfernte Spitzbergen ausgeflogen wurde, hatte er nur einen Wunsch: "ein Vollbad". Während der Wissenschaftler dieses ausgiebig genoss, müssen sich seine russischen Kollegen in der Driftstation weiterhin mit nur dreimal im Monat warmem Wasser begnügen. Denn sie treiben weiter durch die Arktis - "bis die Scholle schmilzt".

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Imke Hendrich/DPA

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