Amerikanische Vorstöße
Am Mittwoch, den 11.07.01, meldete das Jones Institute for Reproductive Medicine in Norfolk, Virginia, es seien künstlich Embryonen einzig und allein zu dem Zweck hergestellt worden, um aus ihnen Stammzellen zu gewinnen.
Einen Tag später wurde die Welt ein weiteres Mal erschüttert. Das Unternehmen Advanced Cell Technology in Worcester, Massachusetts gab bekannt, Embryonen aus Körperzellen eines Patienten klonen zu wollen, um aus diesen maßgeschneiderte Stammzelllinien zu gewinnen.
Gegenstand der zur Zeit heiß geführten Debatten sind die Tausendsassa unter den tierischen und menschlichen Zellen: die omni- und pluripotenten embryonalen Stammzellen. Omnipotente Stammzellen, also Zellen aus dem frühen Achtzellstadium eines Embryos, besitzen noch die Fähigkeit, sich in jede Zellart des menschlichen Körpers auszudifferenzieren und aus ihnen könnte sich – im Gegensatz zu pluripotenten Stammzellen - auch noch ein vollständiger Mensch entwickeln.
Für Menschen mit verschiedenen Erkrankungen wie beispielsweise Parkinson, Alzheimer oder Diabetes bieten Stammzellen ungeahnte Möglichkeiten an neuen Therapieformen und Heilungsmöglichkeiten. Im Gegensatz zu Befürwortern einer uneingeschränkten Forschung sehen Ethiker embryonale Stammzellen jedoch als etwas an, das der Mensch schlicht und einfach nicht manipulieren darf, da sie das Potenzial besitzen, sich zu einem Menschen zu entwickeln.
Stammzellenmonopol
Menschliche pluripotente Stammzellen zu isolieren und zu vermehren gelang 1998 zum ersten Mal den Arbeitsgruppen um James Thomson von der University of Wisconsin-Madison zusammen mit Kollegen des Rambam Medical Centers in Haifa, Israel sowie John Gearhart von der John Hopkins School of Medicine. Thomson nutzte Zellen ab Tag 4 der Entwicklung (genannt Blastocystenstadium) von überzähligen Embryonen, die ursprünglich für eine künstliche Befruchtung hergestellt worden waren. Gearhart hingegen gewann seine Zellen aus abgetriebenen Föten, die bereits 5-9 Wochen alt waren.
Thomson konnte fünf unabhängige Stammzellinien auf Vorrat herstellen und vermehren. Die Kontrolle über die Nutzung der so entstandenen Hoffnungsträger einer neuen Medizin wird seitdem fast ausschließlich von dem Biotechnologieunternehmen Geron ausgeübt. Diese Firma hatte die Projekte der Forscher finanziert, da in den USA die staatliche Finanzierung von Stammzellprojekten verboten war. Im Gegenzug für die Finanzierung der Projekte erhielt das Unternehmen die Exklusivrechte an der kommerziellen Vermarktung der Entdeckungen. Dies beinhaltet Optionen auf exklusive Lizenzierung aller Patente, die aus diesen wissenschaftlichen Forschungen hervorgehen. Geron hofft, durch Forschung an isolierten pluripotenten Stammzellen Mittel gegen Alterung und Altersbeschwerden zu finden.
Das Unternehmen geht hauptsächlich von drei zukünftigen Verwendungszwecken von Stammzellen aus:
- Untersuchung der menschlichen Entwicklung und ihrer genetischen Grundlagen
- Herstellung von Basiszellen und Gewebeschichten diverser Organe für die Transplantationsmedizin
- Erleichterung der pharmazeutischen Forschung durch direkte Testung von Substanzen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Zellentwicklung und das Genom
Stammzellen tiefgekühlt via Internet
Außer den beiden genannten Forschergruppen arbeitet Geron noch mit weiteren Institutionen bei ihren Projekten zur Stammzellforschung zusammen. Die University of California San Francisco, die University of Edinburgh, die University of Utah, die Cornell University und den berühmt berüchtigten Celera Genomics, die kürzlich mit der Bekanntgabe der vollständigen Entschlüsselung des menschlichen Genoms weltweit für Furore sorgten.
Die University of Wisconsin-Madison bestand gegenüber Geron auf dem Recht, Wissenschaftlern Zugang zu den potenten Stammzellen zu ermöglichen, jedoch ohne deren Kommerzialisierungsrechte anzutasten. Aus diesem Grund wurde das WiCell Research Institute eingerichtet, ein non-profit-Unternehmen mit Thomson als medizinischem Direktor.
Dieses Unternehmen vertreibt Thomsons Zellen exklusiv als Wisconsin-Stammzellen (als eingetragene Handelsmarke). Es ermöglicht Wissenschaftlern per Internetbestellung den Zugriff auf die Zellen der Zukunft gegen eine Unkostenbeteiligung von 6000 US-Dollar, sofern die Zellen zu reinen Forschungszwecken genutzt werden. Bei kommerzieller Nutzung sind, neben einer einmaligen Pauschale, jährlich zusätzliche Gebühren fällig.
Die Zellen werden tiefgekühlt zum Empfänger transportiert. Dass dabei einiges schief gehen kann, mussten die ebenfalls von WiCell belieferten beiden deutschen Institute an den Universitäten Köln und Lübeck feststellen, als die Zellen auf dem Transport kaputt gingen.
WiCell lässt sich zudem schriftlich versichern, dass Importbestimmungen der jeweilig belieferten Länder eingehalten werden. Ebenfalls ist es laut Vertrag untersagt, die georderten Zellen in irgendeiner Weise mit nicht-menschlichen Zellen zu vermischen und zu anderen besonders umstrittenen Zwecken zu missbrauchen, wie dem Klonen neuen Lebens.
Warum unter Auflagen bestellen, wenn man selbst züchten kann?
Laut WiCell dürfen also die von ihnen gelieferten Zellen keineswegs dazu verwendet werden, neues Leben zu kreieren. Eine weitere vertragliche Zusicherung müssen die belieferten Institute zudem auch noch in Kauf nehmen: Stammzellen werden nur abgegeben, wenn die Forschungsergebnisse dem US-Institut zugeschrieben werden.
Der Export von Stammzellen in alle Welt boomt trotz dieser weitreichenden vertraglichen Zusicherungen: Weltweit beliefert WiCell nach eigenen Angaben 30 Forschungslaboratorien, weitere 60 Anfragen liegen angeblich vor.
Forscher in vielen Ländern Europas müssen häufig in den sauren Apfel der Abhängigkeit von WiCell beißen, da sie selber keine Stammzellen herstellen dürfen. Sie sind an gesetzliche oder moralische Auflagen und Richtlinien gebunden. Zudem wird durch die allgemeine Sensibilisierung gegenüber dem Thema Stammzellen den Forschern derzeit ganz besonders auf übereifrige Finger geschaut.
Diese Vorgaben scheinen nun zu dem neuesten Quantensprung geführt zu haben: die ersten US-Institute begannen ganz einfach ihre eigenen Stammzellen zu produzieren. Man nehme ein paar Ei- und Samenzellen von spendewilligen Frauen und Männern, befruchte die Eizelle, lasse die Zygote zu einem Embryo heranwachsen und gewinne aus diesem die begehrten Stammzellen. Neu und erschreckend daran war, dass Embryonen nur zu diesem Zweck »hergestellt« worden waren - bisher waren für die Forschung nur Embryonen aus Eizellen verwendet worden, die bei künstlichen Befruchtungen übrig geblieben waren.
In Deutschland ist es nach wie vor verboten, Stammzellen selber herzustellen, sowie an ihnen zu forschen. Einzige Lücke im deutschen Gesetz ist und bleibt vorläufig der Import der Zellen: Nach deutschem Recht ist dieser nämlich erlaubt.
Die Welt diskutiert während Forscher Fakten schaffen
In Amerika läuft die Debatte um moralische Grenzen zwar auch, aber auf einer ganz anderen Ebene: Es geht in den USA nicht um ein generelles Verbot, sondern einzig und allein um die Zusage oder die Verweigerung staatlicher Förderung. Ob US-Staaten überhaupt gesetzlich etwas gegen ein Fortschreiten der Entwicklung tun könnten, ist so und so fraglich: Das Recht auf Streben nach Glück ist in der Verfassung verankert und freizügig interpretierbar.
Und während sich Ethiker, Wissenschaftler und Politiker in den Haaren liegen und das Problem immer weiter vor sich her schieben, schaffen amerikanische Institute einfach Fakten: Nach der Bekanntgabe der künstlichen Herstellung von Embryonen für die Stammzellgewinnung kam das Unternehmen Advanced Cell Technology in Worcester, Massachusetts einen Tag nach der Bekanntgabe des Vorstoßes des Jones Institute mit der Meldung heraus, dass es Embryonen sogar therapeutisch klonen will, um aus ihnen maßgeschneiderte Stammzelllinien zu gewinnen.
Der entscheidende Unterschied bei diesem Vorgehen besteht darin, dass aus einer Körperzelle eines Patienten und einer entkernten Spendereizelle embryonale Klone hergestellt werden. Aus diesen Embryonen sollen dann Stammzellen gewonnen werden, die genetisch identisch zu den Zellen des Patienten sind.
Über den Erfolg bisheriger solcher Versuche äußerte sich das Unternehmen allerdings nicht. Dass dies mit den derzeitigen Techniken möglich sein würde hatte die Wissenschaft bislang eher von sich gewiesen – umso mehr verwundert der jüngste Vorstoß.
Das Vorhaben von Advanced Cell Technology rief dann aber auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten kritische Stimmen auf den Plan. Begründung: Es stünden weltweit genug Zellen aus überzähligen Embryonen zur Verfügung und man sehe in diesem Ziel keinen wissenschaftlichen Fortschritt.
Ersatzteillager Mensch?
Der Einwand der Forscher, die das Klonen in Angriff nehmen wollen, ist von der medizinischen Seite jedoch durchaus verständlich: Das Einpflanzen von Gewebe, das genetisch mit dem Empfänger identisch ist, wird nicht zu den gefürchteten Abstoßungsreaktionen bei Transplantationen führen. Zwar ist nicht vorgsehen, die Embryonen zum Weiterwachsen in die Gebärmutter einzupflanzen, dennoch rückt das Horroszenario vom kopierten Individuum bzw. vom Ersatzteillager Mensch entscheidend näher.
Das bestehende Patent von Geron auf die Isolierungsmethode menschlicher Stammzelllinien aus den Blastocysten in vitro erzeugter überzähliger Embryonen und die hohen Auflagen der Vertreiberfirma WiCell jedoch machen den Durchbruch der Wissenschaftler vom Jones Institut verständlicher, eine eigene Stammzelllinie zu erzeugen, die nicht auf den geschützten Methoden beruht.
Trotz der sich rasant entwickelnden Lage wird die Entscheidung über eine endgültige gesetzliche Regelung in Deutschland und den anderen Ländern Europas bis zum Herbst warten müssen. Einig sind sich aber alle Kommissionen: Die Vorreiterrolle der USA wird wohl nicht als Standard für eine rechtliche Regelung innerhalb Europas herangezogen.
Die Süddeutsche Zeitung gibt hierzu eine Empfehlung:
»Im Dilemma zwischen dem Schutz menschlichen Lebens und dem Recht auf koerperliche Unversehrtheit der auf Therapien hoffenden Kranken muss die Vernichtung von Embryonen so selten wie moeglich bleiben. Deutschland kann dazu beitragen, indem es Forschung an Stammzellen nur dann erlaubt, wenn diese aus Embryonen stammen, die nicht mehr zu retten waren.«
Franziska Lemoine