Im laufenden Sommersemester haben mehrere europäische Hochschulen mit gewöhungsbedürftigen Seminartiteln auf sich aufmerksam gemacht. Die belgische Universität Gent gab vor zwei Wochen bekannt, dass im kommenden Semester in der Veranstaltung "Literatur: Taylors Version" die Songtexte der Sängerin Taylor Swift mit klassischer englischer Literatur verglichen werden. Kursleitung Elly McCausland erklärte gegenüber dem "Guardian", dass sie noch nie so viele Anfragen für ihren Kurs bekommen hätte. Selbst von außerhalb der Universität hätten sich zahlreiche interessierte Swifties bei ihr gemeldet.
Kurioserweise ist McCauslands Seminar nicht einmal die erste Universitätsveranstaltung, die sich den Texten von Swift widmet. Auch an der University of Texas in Austin analysiert man die Songs des Popstars, bevor man ihr Werk mit Literaturgrößen wie Shakespeare oder George Eliot vergleicht. Professorin Elizabeth Scala betont in der Kurzbeschreibung des Kurses, wie zentral klassische Literatur für aktuelle Popmusik sein kann. Ihr Ziel sei es, die Student:innen in einem ihnen bekannten Umfeld an die Klassiker heranzuführen.
Berliner Studierende lesen J.K. Rowling
Der Trend von popkulturellen Einflüssen in die Universitätslehre ist längst auch in Deutschland angekommen. An der Humboldt Universität in Berlin können sich Masterstudierende der Geschichtswissenschaften, der Europäischen Geschichte und der Globalen Geschichte seit dem Sommersemester 2020 für den Kurs "Mit Harry Potter durch das 20. Jahrhundert" einschreiben.
In dem Seminar sollten diverse Parallelen der Romane von J.K. Rowling und dem Aufkommen der Nationalsozialisten in Europa behandelt werden. Laut Kursbeschreibung würde in der berühmten Buchreihe kaum etwas geschehen, was keine Entsprechung in der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts finden würde.
Tatsächlich gibt es auf den ersten Blick einige Interpretationsmöglichkeiten: Der abwertende Umgang der Todesser gegenüber Muggeln und sogenannten Schlammblütern, also Menschen, die entweder nicht über Zauberkräfte verfügen oder deren Eltern keine Zauberer sind, weist klar rassistische und antisemitische Züge auf. Harry Potters Kampf gegen eine auf diesen faschistischen Grundstrukturen basierende Terrorgruppe und deren totalitären Anführer Voldemort passt ebenso ins Bild. Aber sind diese wissenschaftlichen Analysen wirklich mehr als eine triviale Anbiederung an den Zeitgeist?
Experten sehen große Chance in popkulturellen Einflüssen
Der Philosoph Martin Böhnert und der Linguist Paul Reszke von der Universität Kassel sind davon überzeugt. Gemeinsam haben sie den Sammelband "Vom Binge Watching zum Binge Thinking" herausgegeben. Reszke sieht in der Zusammenführung von zeitgenössischer Alltagskultur und wissenschaftlichen Theorien und Methoden mehrere Vorzüge. "Die popkulturellen Erzählungen sind aufgrund ihrer massenmedialen Präsenz einem sehr breiten Publikum bekannt", erklärt der Germanistik-Professor im Gespräch mit dem stern. "Es zeigt sich, dass ein großes Interesse an Diskussionen über diese Erzählungen besteht." Auf die Seminare in Belgien oder Berlin hätte es einen regelrechten Ansturm gegeben.
Reszke führt weiter aus, dass die daraus folgende Motivation, sich nicht nur über die Erzählungen, sondern auch über ähnlichen Problemfelder auszutauschen, einen guten Ankerpunkt für die Hochschuldidaktik bieten würde. Bei Harry Potter wären diese geschichtswissenschaftlichen Themenfelder beispielsweise Rassismus, Antisemitismus, totalitäre Regime aber auch das Verhältnis zwischen Menschen und Natur.
Kritische Sexismus-Analysen mit Taylor Swift
Die popkulturellen Inhalte dienen zum einen als eine Art Gedankenexperiment, um das eigene wissenschaftliche Theorie- und Methodenwissen zu erproben. So werden zum Beispiel die unterschiedlichen Herrschafts- und Gesellschaftsformen in der Harry Potter-Welt systematisiert. Nach dem gleichen Muster könnten Konzepte wie Adultismus oder Sexismus anhand der Texte von Taylor Swift diskutiert werden, die solche Themen spielerisch-kritisch reflektiert.
Studierende können darüber hinaus aber auch eine "wissenschaftsreflexive Perspektive" einnehmen, so Reszke. Das bedeutet, dass die bestehenden Theorien auf bestimmte Erzählungen oder Songtexte angewandt werden. Für Reszkes Co-Autor und Philosophie-Professor Martin Böhnert sind die Möglichkeiten dabei noch lange nicht ausgeschöpft.

"Inwiefern müssen wir Kategorien wie Race, Class und Gender vor dem Hintergrund postapokalyptischer Erzählungen wie 'The Last of Us' neu justieren? Welche Auswirkung hätte das Vorhandensein von Superkräften im Marvel-Franchise auf demokratische Regierungsformen?" Es würden sich noch sehr viele Filme, Videospiele oder musikalische Werke in den kommenden Semestern für interessante Unterrichtsgegenstände eignen.
Ein Selbstzweck dürften die popkulturellen Erzählungen allerdings nicht einnehmen. Dann drohen die Diskussionen in einen reinen Fantalk abzudriften. Der ist zwar amüsant, hat in der Regel aber keinen wissenschaftlichen Gehalt.