Der Titel dieser Kolumne müsste in dieser Woche eigentlich nicht "Ach, Mensch" heißen, sondern "Oh, Mann". Schauen Sie einfach mal auf die Bilder in der Fotostrecke oben.
Sie sehen dort eine bunte Auswahl früherer stern-Cover, und ich weiß nicht, ob ich lachen oder mich schämen soll. Man muss ja erst mal darauf kommen, eine Titelgeschichte über Stewardessen mit einer nackten Frau zu illustrieren, deren untere Körperhälfte zu einem Flugzeug wird. Als ob jeder mitfliegende Geschäftsmann da gleich mal einsteigen kann. Oder zu einem der – aus deutscher Sicht – Höhepunkte der 70er Jahre, den Olympischen Spielen in München 1972, die fünf Ringe auf die rechte Pobacke einer (halb) nackten Frau zu malen und daneben die Zeile zu setzen "Alles über die Spiele" – was offensichtlich mehr heißen soll als Speerwerfen und Rudern im Achter.
Ich bin 1968 geboren und mit dem stern groß geworden. Und ich gehöre zu den Hunderttausenden dieser Generation, die vor allem donnerstags gern der Mami einen kleinen Gefallen taten (Papi war arbeiten) und ganz freiwillig im Briefkasten nach der Post guckten. Wo sonst als auf dem neuen stern bekamen wir mal einen nackten Busen zu sehen, den wir uns einen Tick länger anschauen konnten? Schon als Zehnjähriger fand ich diese Zeitschrift ausgesprochen interessant.
"Nur" alle sechs Wochen eine nackte Frau auf dem Titel

Warum es für Frauen noch immer nicht gerecht zugeht
50 Jahre nach dem berühmten "Wir haben abgetrieben"-Titel blickt der stern in einer Themenwoche auf Frauen und Gleichberechtigung. Was hat sich getan, wo stehen wir?
Fakt ist: Noch immer kämpfen Frauen in vielen Bereichen für die gleichen Rechte und Privilegien wie Männer. Dabei wollen sie einfach nur #dasGleicheBitte.
Lange haftete dem stern der Ruf an, er habe regelmäßig nackte Frauen auf dem Titel. Ein Makel wurde daraus aber erst, als Alice Schwarzer, Inge Meysel und mehrere andere mutige Frauen 1978 das Magazin vor Gericht brachten. Der Kern der berühmt gewordenen "Sexismus"-Klage: Sie fühlten sich als Frau in ihrer Menschenwürde verletzt. Das Hamburger Landgericht wies das Ansinnen aus formalen Gründen ab, erkannte aber durchaus Handlungsbedarf für den Gesetzgeber: In "20, 30 Jahren" würden die Klägerinnen vielleicht recht bekommen. Das ist 43 Jahre her.
Henri Nannen, der Gründer des stern, schäumte und beschimpfte die Klägerinnen. Er ließ vorrechnen, dass sein Magazin "zwischen 1970 und 1978 nur 8,44 Nackte pro Jahr gezeigt" habe. Alle sechs Wochen. "Nur".
Schwarzer und ihre Mitklägerinnen hätten gegen viele andere Zeitschriften vorgehen können. Nackte Frauen waren damals allgegenwärtig (wenn auch nicht für mich Zehnjährigen). Sie wählten den stern, weil sich dieses Magazin – bis heute – als modern versteht und zum Beispiel mit dem "Abgetrieben"-Titel 1971 den Feminismus zum gesellschaftlichen Thema erhoben hatte. Die Frage war mehr als berechtigt: Warum musste gerade dieses Magazin immer wieder mit Brüsten und Po für sich werben?
"Der stern weckt Kellergeister und lädt seinen emanzipatorischen Inhalt im Oberstübchen ab", schrieb die stern-Reporterin Ingrid Kolb in einem selbstkritischen Kommentar zur Klage, den Nannen aus dem Heft kegelte. Heute ist Kolb überzeugt: "Der Prozess hat eine entscheidende Wirkung gehabt: Er hat den Anstoß gegeben, dieses bis dahin selbstverständliche Denken erstmals kritisch zu hinterfragen."
Die letzte nackte Brust auf einem stern-Titel erschien am 30. August 2018, das ist erschreckend kurz her. Heute ist das selbstverständliche Denken endlich ein anderes, aber es hat lange gedauert. Die männliche Fantasie Zehnjähriger und auch Älterer überlässt der stern jetzt anderen. Als ich zusammen mit Anna-Beeke Gretemeier die Chefredaktion übernehmen durfte – rund 40 Jahre nach den Ausflügen zum Briefkasten –, war uns von Anfang an klar: Nackte Frauen auf dem Titel wird es mit uns nicht geben.
stern-Chefredakteur Florian Gless schreibt hier jede zweite Woche über die Herausforderung, einfach Mensch zu sein