Am Donnerstagabend spielten sich grausige Szenen in der sonst so friedlichen Innenstadt der Finanz- und Filmmetropole Mumbai ab. Die Anschläge waren äußerst gut koordiniert: Während die Sicherheitskräfte davon ausgehen, dass die meisten Terroristen vom Indischen Ozean her kamen und direkt hinter dem Gate of India, der größten Sehenswürdigkeit Mumbais, mit einem Schnellboot voller Sprengstoff festmachten und so nur wenige Schritte zum Taj Mahal Hotel zurücklegen mussten, wurde ein anderes Terrorkommando von Sicherheitskameras an Mumbais Hauptbahnhof, der Victoria Station, gefilmt.
"Sie sahen genauso nett und harmlos wie alle unsere indischen Jungen aus", so ein Augenzeuge. Plötzlich aber rissen die zwei jungen Männer die AK47-Gewehre aus dem Rucksack und feuerten in die Menge. Grausame Szenen spielten sich auch vor dem Metropolitan-Kino ab. Hier wurden Passanten von den Terroristen mit Handgranaten bedroht. Die Attentäter kaperten einen Polizeijeep und jagten damit auf die nichtsahnende Menge zu und schossen aus den Fenstern. Viele Verletzte blieben blutend liegen.
Stichwort Indien
Indien ist die größte Demokratie der Welt: 1,1 Milliarden Menschen leben in dem südasiatischen Staat, der neunmal so groß ist wie Deutschland. Die überwiegende Mehrheit der Inder sind Hindus (80 Prozent), Moslems stellen die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft mit 14 Prozent der Bevölkerung. Daneben gibt es noch Christen sowie Anhänger des Sikhismus, Buddhismus und Jainismus.
1756 hatte Großbritannien damit begonnen, sich Indien Untertan zu machen. 1947 wurde die Kolonie Britisch-Indien in die beiden Staaten Indien und Pakistan geteilt - vor allem wegen der Spannungen zwischen Moslems und Hindus. Seitdem ist Indien unabhängig. Anfang der 90er-Jahre öffnete sich das Land wirtschaftlich und hat sich seitdem zu einer der zehntgrößten Volkswirtschaften entwickelt. Zeitgleich begann es, die Zeichen der britischen Kolonialmacht abzustreifen. So wurden etwa die englischen Namen einiger Städte "indisiert": wie Bombay, das seit 1995 Mumbai heißt.
Attentate werden in Indien immer wieder verübt, allein seit Anfang 2007 sind bei fünf schweren Anschlägen rund 300 Menschen ums Leben gekommen. Einer der Hauptgründe für den Terrorismus sind religiöse Konflikte sowie der Streit um Kaschmir - der umstrittenen Grenzregion zu Pakistan. Gefährlich ist auch die Gegend von Andhra Pradesh. Dort treiben maoistische Gruppierungen, die "Naxaliten", ihr Unwesen.
Es waren die spektakulärsten Terroranschläge in der indischen Geschichte - mindestens 101 Menschen wurden getötet und 275 verletzt. In einer quälend langen Nacht und einen ebenso grausamen Morgen voller Ungewissheiten hielten sich die Terroristen in zwei Luxushotels, dem Taj Mahal Hotel und dem Oberoi in der Mumbaier Innenstadt verschanzt. 40 bis 50 Geiseln waren in ihrer Gewalt.
Die Anschläge an zehn verschiedenen Punkten der 18-Millionen-Metropole sollen von Kommandos der islamistischen "Deccan Mujaheddin" ausgeführt worden sein, die bisher in der islamischen Terrorszene wenig bekannt sind. Elf Polizisten, darunter der Chef der Anti-Terrorbrigade Hernant Karkara, kamen ums Leben.
Das indische Fernsehen zeigte Bilder, auf denen Karkara zu Beginn seines Einsatzes Helm und kugelsichere Weste anlegte. Er muss sie unglücklicherweise wieder abgelegt haben. Denn er starb durch Schüsse in die Brust. Unter den Toten sind auch sechs Ausländer, nach neuesten Meldungen der "Times of India" sollen sich darunter auch amerikanische Geheimagenten befunden haben.
Massaker am Taj Mahal Hotel
Den größten Blutzoll aber mußte das Taj Mahal Hotel entrichten. Das imposante viktorianische Gebäude von 1903 ist viel mehr als ein Hotel, sondern eine Art Café Einstein von Mumbai, eine Treffpunkt, wo Bollywood-Stars und Sternchen, Politiker, Finanzmakler und Journalisten und viele ganz normale Mumbaier Geschäftsleute zum Bier, zum Brunch oder zum abendlichen Büffet zusammenkommen. Als die Schüsse durch die Stockwerke peitschten und die Altbaukuppel, das Symbol des aufsteigenden Indiens, gegründet von der indischen Industriellenfamilie Tata nachts in Flammen aufging, weinten auch die armen Leute in den Slums, die sich dort niemals einen Kaffee leisten könnten.
Erst am Freitag morgen konnte der Brand notdürftig gelöscht werden, wurden Überlebende in Bussen aus dem Hotelhintereingang in Sicherheit gebracht. Die Gäste hatten die Nacht statt im gepflegten Ambiente im Dunklen unter Tischen versteckt zugebracht. Die ersten Leichen wurden am frühen Mittag im Laufschritt abtransportiert. Die Sicherheitskräfte hatten sich in der Nacht nicht getraut, aus Angst, die Leichen könnten mit Booby Traps gespickt sein.
Geiseln in Gewalt der Terroristen
Im modernen Oberoi Hotel, einem Fünf-Sterne-Palast am berühmten Marine Drive, der Flaniermeile Mumbais, sah die Lage nicht besser aus. Niemand weiß zur Stunde, wie viele Geiseln dort festgehalten werden. Alle TV-Kameras richten sich auf den 19. Stock, wo sich die Terroristen mit ihren Geiseln verschanzt haben sollen und Forderungen nach Freiem Geleit und der Freilassung ihrer bisher fünf gefangenen Mittäter erheben. Polizei, Armee und Scharfschützen haben die Szene weiträumig gesperrt.
"Nach den vielen islamistischen Anschlägen - und mindestens drei blutigen Hindu-Konterattentaten - mit einigen hundert Toten landesweit war es klar, dass es auch uns in Mumbai treffen musste" so Taxifahrer Israr Khan, " ein schwarzer Tag für uns alle, Hindus, Muslims, Christen" Beobachter befürchten bereits eine erneute Verschlechterung der indisch-pakistanischen Beziehungen oder ein neues Aufflammen des indo-pakistanischen Kaschmir-Grenzkonflikts. Journalisten sprechen bereits von "11/26" in Anspielung an "9/11", den Anschlag auf das Worldtrade Centers.
Bewundernswerte Gelassenheit
Doch bei aller Trauer nahmen die meisten Einwohner Mumbais den schwersten Anschlag seit den Neunziger Jahren mit bewundernswerter Gelassenheit. Zwar blieben Schulen und die berühmte Mumbaier Börse geschlossen, aber die Vorortzüge fuhren in den Morgenstunden bereits wieder normal, viele Menschen gingen zur Arbeit, die Märkte waren teilweise offen. Auch die Flüge am Mumbaier International Airport gingen innerhalb der üblichen Verspätungen hinaus. Nur über Mittag war der Flugverkehr für etwa eine Stunde unterbrochen, weil ein hoher indischer Politiker einflog. Die Lage ist noch immer ungeklärt, aber die Finanzstadt Mumbai macht business as usual.