Für Wladimir Putin ist es die wichtigste Rede seit seiner Rückkehr in den Kreml - doch in den Augen vieler Kommentatoren ist die Ansprache an die Nation vor allem eine große Enttäuschung. Zwar beschwört der russische Präsident mit schönen Worten das Bild eines starken und patriotischen Landes. Inhaltlich aber bietet Putin wenig: Anders als angekündigt ist nichts Konkretes zu hören. Der starke Mann Russlands bleibt im prunkvollen Georgssaal des Moskauer Kreml aus Sicht von Experten überraschend schwach.
Mit der weiß-blau-roten Nationalfahne und dem Moskauer Stadtbanner im Rücken sollte sich Putin eigentlich eklatante Probleme wie die allgegenwärtige Korruption oder Behördenwillkür vorknöpfen, wie Medien zuvor erwartungsvoll geschrieben hatten. Doch dazu kommen ihm dann nur ein paar dürre Sätze über die Lippen. So bleibt die vage Forderung nach der "Wiedergeburt des Nationalstolzes" hängen.
Dabei hatte der Kreml eine wegweisende Rede angekündigt, die nicht nur für das kommende Jahr, sondern für die gesamte sechsjährige Amtszeit bis 2018 Vorgaben liefern werde. Auf bahnbrechende Neuheiten aber warten die etwa 1000 Vertreter aus Staat, Gesellschaft und Kirche vergeblich. Vielmehr wärmt Putin viel Altbekanntes wieder auf. Als "Manifest des Status quo" kritisiert der Oppositionspolitiker Wladimir Ryschkow die 83 Minuten lange Ansprache.
Eigenlob ohne Zukunftsvision
Auffällig ist für viele Experten, dass Putin am Tag der Verfassung vor allem sich selbst lobt. "In den ersten zwölf Jahren des neuen Jahrhunderts haben wir viel erreicht", sagt der Staatschef. Dann doziert der 60-Jährige die Wirtschaftserfolge seit seinem Machtantritt 1999: die Schulden gesenkt, die Inflation verlangsamt, das Bruttoinlandsprodukt deutlich erhöht. Eine Lösung aber, wie die Rohstoffmacht ihre Abhängigkeit von Öl und Gas verringern kann, präsentiert der Präsident nicht.
Auf seine Kritiker geht der Ex-Geheimdienstchef kaum zu; politische Reformen bleiben nebulös. Die Botschaft ist klar: Dialog ja, aber nur mit netten Leuten - und Zugang zu Medien nur für zivilisierte Vertreter.
Den gut 140 Millionen Bürgern gibt Putin vor allem väterliche Ratschläge mit auf den Weg: "Die Norm in Russland sollte eine Familie mit drei Kindern sein", sagt der Vater von zwei Töchtern. Aber auch hier fehlen konkrete Ideen, wie Putin die immensen demografischen Probleme zwischen Ostsee und Pazifik lösen will. "Wir sollten..." - so fingen typische Putin-Sätze an, kritisiert Kremlgegner Ryschkow.
Putin zeigt keine gesundheitlichen Schwächen
Putin persönlich habe die Ansprache entworfen, unterstreicht Kremlsprecher Dmitri Peskow stolz. Genau das aber verstärkt bei Kommentatoren den Eindruck, Putin habe in erster Linie zu sich selbst geredet und weniger zum eigentlichen Adressaten, dem Volk. Der Präsident, ein begabter Redner, liest diesmal oft schnell vom Blatt.
Bei vielen hält sich der Eindruck, dass es sich eher um eine Gedankensammlung ohne roten Faden handelt als um eine ausgereifte Rede. Vermisst wurden die sonst so dramaturgischen Wendungen mit rhetorischen Glanzpunkten. Seine Zuhörer reißt er damit nicht mit. Nur selten befeuern sie die traditionelle Programmrede mit Applaus - zwölfmal, wie die Staatsagentur Itar-Tass zählt.
Seit dem Beginn seiner dritten Amtszeit im Mai gefalle sich Putin immer mehr als weiser Führer, der das trockene Tagesgeschäft der Regierung um seinen politischen Ziehsohn Dmitri Medwedew überlässt, meinen Experten.
Für viele der rund 500 angemeldeten Journalisten, die die Ansprache auf Monitoren in Nebensälen verfolgen, sind allerdings andere Themen deutlich interessanter. Mit Spannung war erwartet worden, ob der gesundheitlich angeschlagene Staatschef die gesamte Zeit stehen könnte. Dann kommt die Erleichterung. "Er steht", murmelt gleich zu Beginn der Rede ein russischer Reporter.