Sie hatten ihn schon am Nachmittag blutig geschlagen. Warum die Polizisten in Genua gerade ihn aus einer Gruppe von fünf Deutschen herauspickten, hinter die Einsatzwagen zerrten und dort mit Schlagstöcken und Tritten misshandelten, weiß der 24-jährige Niels Martensen bis heute nicht. »Wir haben keine Steine geworfen, wir haben nicht randaliert, rund um uns war kein Schlachtfeld.« Die große Demonstration war ohnehin schon zu Ende gewesen. Im Krankenhaus vernähte man ihm eine Platzwunde am Kinn. Doch das war erst der Anfang.
Ein paar Stunden später wollten Niels und seine Freundin Lena Zühlke aus Hamburg müde im ersten Obergeschoss der Schule Diaz, Hauptquartier des Genoa Social Forum, ihr Nachtlager aufschlagen. »Wir waren noch keine fünf Minuten da, als es draußen plötzlich von Polizisten wimmelte«, sagt Niels. Die beiden flüchteten eine Treppe hinauf. Doch die Polizisten kamen von allen Seiten. »Wir hoben die Hände, da schlugen sie schon auf uns ein«, erinnert sich Lena im Krankenhaus San Martino. Die 24-Jährige wird an Kopf und Rücken getroffen.
Blut schiesst aus der Wunde am Schädel. Polizisten treten auf sie ein, zerren sie an den Haaren zur Treppe, stoßen sie hinunter. Sie schützt das Gesicht mit den Händen, kriegt Tritte in den Nacken, rutscht bäuchlings die Treppe hinab. Unten schleudert ein Beamter sie auf zwei bereits daliegende, heftig blutende Personen. Im Weggehen spucken ihr die Polizisten noch ins Gesicht.
Nicht einfach Speichel, sondern Rotz. »Das war das Ekelhafteste. Demütigender als die Prügel.« Die junge Frau versucht aufzustehen, doch ihre Beine machen nicht mit. Endlich kommen Sanitäter und tragen sie weg. Einer der ersten, die sie im Hospital San Martino bewusst wahrnimmt, ist ihr Freund Niels. Der hatte sie im Genoa Social Forum zum letzten Mal gesehen, als sie an den Haaren weggezogen worden war. Kurz darauf lag auch er zusammengeprügelt auf dem Boden.
Riss im Ohr
Niels Martensen blutet aus der Nase, hat einen tiefen Riss im Ohr, ein blutunterlaufenes Auge. Einmal will er sich aufrichten, wird aber zu Boden gerissen. Wieder Tritte, wieder Schläge mit dem Gummiknüppel auf den Rücken. Er bleibt in einer Blutlache liegen. Irgendjemand übersprüht seinen Körper mit Schaum. Aus dem Feuerlöscher? »Wahrscheinlich«, sagt Martensen, »das Zeug brannte jedenfalls auf den Wunden wie der Teufel, noch Stunden später tränten allen die Augen, als ich meine Kleider ausschüttelte.«
Schließlich transportiert man ihn ins Krankenhaus. Er wird geröntgt, erfährt, dass ihm ein Zahn fehlt, aber sonst nichts gebrochen sei. Und sieht Lena auf einer Bahre. »Sie stöhnte bei jedem Atemzug.« Unter Schmerzen krabbelt ihr Freund von seiner Liege, will zu ihr. Seine Beine versagen ihren Dienst. Lena wird mit Blaulicht weggefahren. Verdacht auf eine lebensbedrohende Lungenverletzung.
Später überstellt man Niels Martensen ins Sammellager Bolzaneto, eine Polizeikaserne. Wie alle anderen, die beim Sturm auf das Genoa Social Forum festgenommen wurden, soll auch er sich mit erhobenen Armen gegen eine Wand stellen. Martensen kriegt den rechten Arm wegen eines großen Hämatoms nicht hoch. Er fängt vor Schmerz an zu schreien. Ein Polizeiarzt kommt. Er kaut genüsslich an einem Wurstbrot. »Tut mir leid, du musst noch ein bisschen warten, bis ich fertig gegessen habe«, sagt er in schlechtem Englisch. Alle Polizisten lachen. Als der Doktor durch ist mit dem Wurstbrot, reißt er Martensens Hemd herunter, dass die Knöpfe davonfliegen, schlägt mit Wucht auf die Blutergüsse und gibt Niels ein Kühlpaket für seine Blessuren.
Stundenlang stehen die angeblichen Terroristen an der Wand. Martensen: »Da gab es Leute mit gebrochenen Armen und von Schlägen total entstellten Gesichtern.« Insgesamt kamen in Genua 288 Personen in Haft, unter den Festgenommenen waren 70 Deutsche, die auf verschiedene Gefängnisse verteilt wurden.
»Fast wie ein Skalp«
Als Niels Martensen in Bolzaneto einmal zur Toilette humpelt, stellt ihm ein Polizist ein Bein. Die Klotür muss immer offen bleiben, die Beamten lassen sich hämisch über die Notdurft ihrer Opfer aus. Martensen: »Ich habe versucht, so wenig wie möglich zu trinken, um das Pinkeln zu vermeiden.« Einigen Inhaftierten mit längerer Mähne werden zwangsweise die Haare gestutzt. »Da gab es Polizisten, die sich die abgeschnittenen Büschel an die Uniform hängten, fast wie einen Skalp.«
Zwei Nächte und einen Tag verbringt Martensen in Arrest. Geschlafen wird auf dem blanken Betonfußboden. Zu essen gibt es ein Brötchen. Jeder Kontakt mit der Außenwelt ist untersagt. Warum sie festgehalten werden, erfahren die Eingesperrten nicht. 36 Stunden nach der Razzia im Genua Social Forum wird Martensen ins Gefängnis von Pavia überstellt. Zuvor muss er sich - wie alle anderen auch - noch einmal nackt ausziehen. Ein Beamter untersucht seine Unterhose und seine Socken mit einem Metalldetektor. Anschließend fordert er den Häftling auf, eine Kniebeuge zu machen, und befiehlt noch fünf zusätzliche, als er sieht, dass Martensen wegen seiner Blutergüsse nur stöhnend gehorchen kann. Rundum lacht wieder einmal das Polizeikorps, das während der Tage von Genua - so Italiens Innenminister Scajola - »Würde und Professionalität« zeigte. »Du fühlst dich so hilflos und erniedrigt, wenn du nackt vor einer solchen Meute stehst«, sagt Martensen.
Im Knast von Pavia
Im Knast von Pavia werden die Arrestanten wenigstens korrekt behandelt. Außer dass sie noch zwei Tage ohne Angabe von Gründen eingesperrt bleiben. Außer dass sie noch immer nicht mit Anwälten oder Verwandten telefonieren dürfen. Am Mittwochmorgen steht Niels Martensen endlich vor einer Richterin und hört die Gründe für seine vorläufige Festnahme, die inzwischen vier Tage zurückliegt: Verdacht auf illegalen Waffenbesitz, Bildung einer terroristischen Vereinigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt. Ihm seien die Tränen gekommen, sagt Martensen, »so unglaublich, so absurd war das«. Sein Anwalt, den er bei diesem Haftprüfungstermin zum ersten Mal sieht, beruhigt ihn, diese Verbrechen habe man allen Festgenommenen pauschal unterstellt.
Nachdem die Richterin Martensens Aussagen gehört hat, sieht sie keinen Anlass, ein Verfahren einzuleiten - wie bei fast allen anderen auch. Von 93 im Genoa Social Forum Festgenommenen bleibt nur einer in Polizeigewahrsam. Martensen ist ein freier Mann. Trotzdem wird er in der Nacht zum Donnerstag mit anderen deutschen ehemaligen Mithäftlingen in einem streng gesicherten Polizeibus über die Grenze nach Österreich abgeschoben, ein völkerrechtlich kaum haltbares Vorgehen.
Seine Freundin Lena Zühlke ist schon einen Tag eher freigekommen. Doch wegen ihrer Lungenverletzung muss die Anglistik- und Indologie-Studentin noch mindestens eine Woche im Krankenhaus San Martino bleiben. Ihre Eltern besuchen sie in Genua. Vater Andreas Zühlke ist Pastor in Hamburg-Altona, Mutter Anngret Lehrerin. »Meine Eltern sind kritische Menschen, sie haben mich immer unterstützt«, sagt Lena.
Schlagzeilen gemacht
Sie und Niels Martensen sind Aktivisten der Anti-Atomkraft-Bewegung. Sie haben 1997 Schlagzeilen gemacht, als sie sich über einem Castor-Transport von einem Baum abseilten und die Weiterfahrt für Stunden verhinderten. Niels Martensen musste einmal wegen Nötigung 1000 Mark bezahlen: Er hatte sich mit anderen in einem Tunnel unter einer Straße zum Kernkraftwerk Neckarwestheim angekettet. »Ich habe nie Gewalt gegen jemanden ausgeübt und werde das auch nicht tun«, sagt er.
In der Nähe von Hamburg betreibt er einen Öko-Baumarkt, wo man etwa handgespaltene Kiefernbalken kaufen kann, und mit seiner Freundin eine Praxis für »Ökologische Baumpflege«. Auch nach den Horrortagen von Genua wollen die beiden an ihrem Engagement festhalten. »In Deutschland habe ich jetzt weniger Angst vor der Polizei als früher. Das, was dir bei uns passieren kann, ist lächerlich im Vergleich zu dem, was wir in Italien erlebt haben«, sagt Niels Martensen.
Teja Fiedler