Wenn am 1. Mai Estland und Lettland Mitglieder der Europäischen Union werden, wird dies auch ganz besonders von den in der Bundesrepublik lebenden früheren deutschstämmigen Bewohnern begrüßt. Die Deutschbalten haben im Unterschied zu Schlesiern und Sudetendeutschen keinerlei Ansprüche und Forderungen an ihr früheres Heimatland. "Es gibt keinerlei Probleme", sagt der Vorsitzende der deutschbaltischen Landsmannschaft, Heinz-Adolf Treu.
"Die Deutschbalten wurden 1939 nicht von Esten und Letten rausgeworfen, sondern geordnet umgesiedelt. Deshalb haben wir ein gutes Verhältnis", sagt der Historiker Gerd von Pistohlkors, der selbst als Kind auf einem "Kraft-durch-Freude"-Schiff seine Heimat verlassen musste. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt, der das Baltikum an die Sowjetunion auslieferte, kamen damals 15 000 Deutschbalten aus Estland und 50 000 aus Lettland ins Reich. "Die deutsche Geschichte im Baltikum ist abgeschlossen. Es gibt dort so gut wie keine Deutschbalten mehr", sagt Pistohlkors ohne Resignation.
Großgrundbesitzungen wurden 1920 enteignet
Dabei haben deutschstämmige Bewohner seit Ausgang des 12. Jahrhunderts Kultur, Wirtschaft und Politik des Baltikums mitbestimmt. Die lettische Hauptstadt Riga wurde 1201 durch den Bremer Domherren Albert von Buxhoeveden gegründet. Die Deutschbalten stellten später rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Ein Großteil der Großgrundbesitzungen war in ihrer Hand. Diese wurden 1920 von den damals erstmals unabhängigen Baltenstaaten enteignet. Damit setzte die erste Auswanderungswelle ein.
Die Interessen dieser adligen Oberschicht werden noch heute von dem Verband der Baltischen Ritterschaften vertreten. Diese Organisation hat 2200 Mitglieder. Aber auch diese strebt nicht nach Wiedererlangung alter Besitztümer. "Wir haben keine Ansprüche", versichert der Vorsitzende Ulf von Samson-Himmelsstjerna. Obwohl im Unterschied zu Polen und Tschechien in den EU-Beitrittsverträgen der Baltenstaaten keine Wartefristen für den Landerwerb von Ausländern festgelegt sind, haben bisher noch keine Deutschbalten ihre alten Güter zurückgekauft. "Wenn auch der eine oder andere zurückkommen wird, zu einer Bewegung wird das nicht", sagt Pistohlkors voraus.
Es geht den Ritterschaften eher um Traditionspflege und die Erhaltung der Zeugnisse ihrer Kultur im Baltikum. So beteiligen sie sich an der Restaurierung von Schlössern, Kirchen und Friedhöfen. Unterstützt wird beispielsweise die Restaurierung des ehemaligen Schlosses der Herzöge von Kurland, Ruhenthal. "30 Prozent der Herrenhäuser in Lettland sind noch in einem restaurierungsfähigen Zustand", sagt Samson-Himmelsstjerna.
Keinerlei Befürchtungen gegenüber den Deutschbalten
In Deutschland leben heute nur noch rund 10 000 Menschen, die sich als Deutschbalten betrachten. Aber die Zeitzeugen wie Treu, die noch selbst im Baltikum gelebt haben, sterben langsam aus. Für die jüngere Generation lebt das Baltikum in den Erzählungen der Großeltern und Eltern weiter. Mancher spürt seine Wurzeln, wenn er das Baltikum besucht.
Treu berichtet von der Visite eines jungen Mann auf dem Gut seiner Vorfahren. Spontan habe er gefühlt: "Hier gehöre ich hin." Bei den Letten und Esten gibt es keinerlei Befürchtungen gegenüber den Deutschbalten. "Sie sind heute dabei, deutsche Geschichte auch als Teil der gemeinsamen Geschichte anzuerkennen", sagt Pistohlkors, der Ehrendoktor der Universität Tartu/Dorpat ist.