Es waren Tage wie diese, wenn das Heimweh kam. Draußen fror es, und wenn es friert, platzten bei uns gern die Wasserrohre. Worauf man den örtlichen Klempner von Bruni & Campisi verständigte und gesagt bekam: "In sechs Tagen hätten wir abends um neun noch was frei." Sechs Tage Warten sind ganz normal in Amerika, weil überall die Rohre platzen, und Bruni & Campisi flicken, flicken, flicken.
Wir sind nicht allein. Nach sechs Tagen klingelte es abends um neun, und draußen stand Sal, ein hünenhafter Angestellter von Bruni & Campisi. Die Frau des Hauses zeigte Sal das Leck unter der Spüle und erklärte ihm, dass das Wasserrohr allerdings draußen verlaufe. Sie stellte Sal auch die Sinnfrage: "Warum verlaufen Wasserrohre in Amerika eigentlich draußen an den Häuserwänden?", und Sal antwortete entwaffnend ehrlich: "Wie sollen wir sonst drankommen, wenn sie platzen?" Die Frau erklärte ihm daraufhin überaus behutsam, dass Wasserrohre vermutlich gar nicht erst platzen würden, wenn sie drinnen … aber in diesem Moment schrie Sal auch schon. Wir dachten, sein Blinddarm sei durchgebrochen, mindestens. Aber Sal deutete auf die Spüle und stotterte "da, da, da", doch "da, da, da" war nichts außer einer winzigen Spinne. Sal, stellte sich heraus, litt unter einer Spinnenphobie und bedeutete uns, dass er nicht der Richtige sei für diese Art von Reparatur wegen der Spinne in der Spüle. Dann verließ Sal das Haus.
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Der Fotograf Gunter Klötzer hat mehrere Jahre an dem Projekt gearbeitet, das komplett auf der website www.deutsche-in-amerika.net zu sehen ist. Eine Ausstellung im Stadthaus Ulm zeigt vom 25. Juli bis 21. September 62 seiner Porträts. Sein Buch "German Americans - Deutsche in Amerika" erscheint in der Arnoldschen Verlagsanstalt, 256 Seiten, 39,80 Euro.
Das waren die Tage, da wir uns nach Deutschland sehnten, wo wir nicht in der Badewanne spülen mussten, wenn's kalt war, und wir Stromausfälle fürchteten, weil die Leitungen in Amerika oberirdisch verlaufen und bei Schnee und Wind knicken. Wo Handwerker nicht sechs Tage brauchten. Und Menschen nicht von unter Strom stehenden Gullydeckeln geröstet wurden wie in New York und man sich fragte: Waren die Amerikaner tatsächlich auf oder doch nur hinterm Mond? Das waren die Heimweh-Tage.
Was eint uns Deutsche?
Wahrscheinlich hat jeder Deutsche in Amerika Heimweh-Tage. Sie kommen und gehen auch schnell wieder. Es sind die Momente, in denen einem bewusst wird, dass man doch deutscher ist, als man wahrhaben möchte. Und also begibt man sich auf einen Trip in die deutsche Seele. Trifft Deutsche, die in Amerika leben - kurz, lang oder für immer -, und versucht die Frage zu ergründen, was uns eint. Was wir lieben hier, was wir vermissen. Was Amerika hat, was Deutschland nicht hat, und umgekehrt. Man trifft auf dieser Reise Künstler, Fußballschiedsrichter, Anwälte, Übersetzer, Designer, schauspielernde Friseure, Clowns und Geschäftsleute. Man trifft Deutsche, die übereinstimmend behaupten, sie hätten in Amerika ihr Glück gefunden, und die doch das Deutschsein tief in sich spüren.
Diese Reise beginnt in New York mit einer Fahrt in die Vergangenheit nach Ellis Island, der Insel der Einwanderer, wo zwischen 1892 und 1954 zwölf Millionen Immigranten anlandeten, unzählige Tests über sich ergehen lassen mussten; Amerika, gelobtes Land, nahm nicht jeden. Die Mehrzahl kam aus: Deutschland. Deutsche, das weiß kaum jemand hier wie dort, stellen mit 48 Millionen die mit Abstand größte ethnische Bevölkerungsgruppe Amerikas. New York City allein beherbergte bis Anfang des 20. Jahrhunderts Little Germany, Klein Deutschland, auf Manhattans Lower Eastside. 80.000 Deutsche lebten da, bis bei einem Schiffsunglück auf dem East River im Jahre 1904 - die größte Katastrophe in der Geschichte New Yorks vor dem Nine Eleven - 1021 deutsche Frauen und Kinder ums Leben kamen. Davon erholte sich die teutonische Gemeinde nie, und binnen weniger Jahrzehnte war Little Germany Geschichte. Amerika ist dennoch deutscher, als man denkt. In New Ulm, Minnesota, steht eine Kopie des Hermann-Denkmals aus dem Teutoburger Wald, nicht ganz so riesig wie das Original, aber immerhin das nach der Freiheitsstatue zweitgrößte Kupferdenkmal in den USA. Wer weiß das schon?
Die Deutschen assimilierten sich nämlich schneller als Iren oder Italiener. Änderten ihre Namen von Schmidt zu Smith und Müller zu Miller, wurden alsbald ordentliche Amerikaner und viele, bekanntermaßen gründlich, gleich auch Republikaner. Wohingegen Iren, selbst wenn sie in sechster Generation in den Staaten leben und das Land noch nie verlassen haben, stolz erklären: "I am Irish."
Deutschland verkommt zur Karikatur
Sie feiern ihren St. Patrick's Day mit einem transkontinentalen Besäufnis von San Francisco bis Boston. Deutsche und Deutschstämmige haben leider nicht so etwas wie St. Patrick's Day. Sie feiern stattdessen ihre jährliche Steuben-Parade auf der Fifth Avenue, was ein erbarmungswürdig peinliches Schauspiel ist und eher zur Völkermissverständigung beiträgt, weil die Amerikaner bis zum Sankt Nimmerleinstag glauben müssen, dass alle Deutschen ohne Unterlass Blasmusik spielen - hierzulande kongenial mit "Oompa-Music" übersetzt -, sich ausnahmslos von Bratwurst mit Sauerkraut ernähren und mit Mengen von Bier runterspülen. Deutschland verkommt zur Karikatur auf der Fifth Avenue.
Das waren Momente, da man sich wünschte, Däne, Schwede, Norweger, Ire zu sein. Oder Amerikaner. Das waren keine Heimweh-Tage.
Deutsche leben irgendwo dazwischen. Lieben dieses Amerika an vielen guten Tagen und wenden sich an schlechten mit Grauen. Nennt man das Hassliebe? Wenn ja, überwiegt Liebe, Zuneigung allemal. Die Zuneigung steigt im Übrigen mit jedem Kilometer, den man sich entfernt von der Neuen Welt. Am stärksten ist die Sehnsucht nach Amerika ausgerechnet in Deutschland. Wo man ständig darauf angesprochen wird, wie es auszuhalten sei in den USA. "Du wirst", sagt die PR-Managerin Antje Hübner, "in Deutschland automatisch zum Verteidiger Amerikas und stellst fest, dass die Ignoranz dort ebenso verbreitet ist wie in den USA." Denn erschreckend viele Deutsche betrachten die USA mit genau jenen Schwarz-Weiß-Parametern, die sie Bush und seiner Clique zu Recht vorwerfen.
Das Lebenskonzept Freundlichkeit
Das sind wieder Heimweh-Tage. Heimweh-nach-Amerika-Tage. Wo die Menschen einander "Have a nice day" wünschen und ständig "How are you?" fragen und "You're welcome" sagen. Vermutlich meinen sie das nicht wirklich ernst. Aber dahinter steckt ein Lebenskonzept: Freundlichkeit! Kein Klischee! Kann es schaden, mit "Einen schönen Tag noch" verabschiedet zu werden? Vielleicht ist es tatsächlich so, dass Amerikaner die Arme weit öffnen und vergessen, sie zu schließen. Vielleicht. Aber die Arme sind immerhin geöffnet und nicht verschränkt vor der Brust.
Sie empfingen mit offenen Armen Fritz Weinschenk, 87, als der in den 30er Jahren mit seiner Familie aus Mainz vor den Nazis nach New York floh. Neun Jahre später kehrte er als GI nach Europa zurück und traf am D-Day in der Normandie auf seine alten Landsleute, "es war kein freundlicher Empfang". Weinschenk wurde Anwalt, überführte Nazis, bekam das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und am Bande. Er schwärmt noch heute von Kassler und Rippchen, nennt das "Dritte Reich" milde "eine Krankheit, die das deutsche Volk heimsuchte" und sagt mit unverkennbarem Mainzer Singsang in der Stimme: "Ich bin durch und durch Amerikaner. Ich liebe dieses Land. Ich verdanke ihm alles. Mein Leben, meine Existenz." Und zuweilen, wenn er nach Washington blickt, "schäme ich mich auch, Amerikaner zu sein".
Seine Geschichte ist gewiss außergewöhnlich. Aber an ihrem Anfang, das gilt für den Großteil der deutschen Auswanderer, stand die Suche nach Glück. "Wir kommen alle mit einem Vorhaben in dieses Land", sagt die Künstlerin Nicole Laemmle aus Brooklyn, "und viele, kein Klischee!, viele werden tatsächlich belohnt."
78 Prozent der Amerikaner sind glücklich
Zuweilen, dummerweise, stimmen Klischee und Wahrheit überein. 58 Prozent der US-Bürger, besagt eine Harris-Studie, sind mit ihrem Leben "sehr zufrieden". In Deutschland sind es 21 Prozent. Und 78 Prozent der Amerikaner antworten auf die Frage, ob sie glücklich sind, mit Ja. Wäre das vorstellbar in Deutschland?
Wer in Amerika lebt, schaut gelegentlich bedauernd auf die Landsleute jenseits des Wassers, wie sie streiten über Reformen und jammern. Wer hier lebt, wundert sich über 35-Stunden-Woche und 30 Tage Urlaub pro Jahr und Politskandale, die aus der Ferne merkwürdig provinziell wirken. Wer hier lebt, wundert sich über diesen teutonischen Hang zur Selbstzerfleischung. Wer hier lebt, weiß, dass es vielen Deutschen besser geht, als sie glauben. 47 Millionen Amerikaner sind nicht krankenversichert; 37 Millionen US-Bürger leben unterhalb der Armutsgrenze; Abermillionen können ihre Familie nur am Leben halten, indem sie zwei oder drei Jobs gleichzeitig übernehmen. Amerikaner hätten viele gute Gründe zu klagen. Die wenigsten tun es. Sind die deshalb naiv? Oder liegt es vielmehr daran, dass in den Vereinigten Staaten schlicht der Grundsatz gilt: möglichst wenig Regierung und möglichst viel Selbstverantwortung?
Ein Ozean an Unterschieden und Missverständnissen liegt zwischen uns. Und doch, ein Freund aus Finnland in New York sagt: "Irgendwie ist Amerika wie eine Frau. Sie nervt oft, sie ist verschwenderisch und laut und auch zu grell geschminkt. Aber ganz ohne kann man auch nicht."
Ewig-gestrige Debatten
So ist das wohl. Wir lieben vieles an Amerika, obschon wir Land und Leute wahrscheinlich nie richtig verstehen werden, zu europäisch die Gene. Wir werden nie verstehen, weshalb Soldaten mit 18 in den Krieg ziehen müssen, aber erst mit 21 ihr erstes Bier trinken dürfen. Wir werden auch nicht verstehen, weshalb Kämpfe ausgefochten werden, die man schon in den Sechzigern für ausgefochten glaubte, diese ewig-gestrigen Debatten über Abtreibung und Schwule und, man glaubt es kaum: die Evolution. Wir werden nie verstehen, weshalb selbst aufgeklärte amerikanische Freunde die Todesstrafe mit Verve verteidigen. Und als Deutsche wird uns der Patriotismus der Amerikaner immer fremd bleiben. "Manchmal", sagt der Autodesigner Harald Belker aus Marina del Rey, "fasst du dir einfach nur an den Kopf und fragst dich: Lernen die hier nie?" Aber, sagt er, "das ist eben nur manchmal".
Wir haben gelernt zu verstehen, weshalb die Amerikaner ihr Land lieben. Sie sind von dieser Idee überzeugt, dass jeder nach seiner Fasson leben kann. Selbst dann, wenn die Geschichte vom amerikanischen Traum grober Unfug ist, weil sich diesen Traum die wenigsten leisten können. Sie glauben dennoch daran. Oft wünschten wir uns ein bisschen mehr von Amerika in Deutschland, diesen Optimismus, mehr Leichtigkeit auf jeden Fall und weniger Destruktion. Und mitunter wünschten wir uns ein bisschen mehr Deutschland in Amerika, mehr Zuverlässigkeit und, mehr Tiefe, vernünftige Nachrichten im Fernsehen, und, tja, auch etwas mehr Kultur. Sagt Corinna Schreiber, Übersetzerin, aus Tucson, Arizona: "An manchen Orten ist ein Joghurt das Einzige, was an Kultur erinnert."
Man lernt damit zu leben, muss ja. Ein Leben dazwischen, Heimweh hier wie dort. Mehr dort. Der junge Filmproduzent Jack Gerlach aus Malibu drückt das so aus: "Du bist ja nicht mehr richtig zu Hause in Deutschland. Und auch nicht richtig hier. Du bist ein Nomade. Und ich bin gern Nomade."
PS.: Bruni & Campisi meldeten sich schließlich. Sie schickten einen Klempner. Er heißt Dave Krantz, wir kennen ihn gut. Dave hat uns schon mehrmals die Waschmaschine repariert. Dave, deutsche Vorfahren, pfiff gern Beethovens Neunte, während er die Maschine zerlegte. Er bekam für seine Arbeit stets 93 Dollar, und irgendwann fragte Dave einmal: "Kommt Ihr eigentlich aus dem guten oder dem schlechten Deutschland?" Es war eine verdammt gute Frage.