Einmal Shanghai, bitte! Der "Glöckner von Notre Dame" lässt grüßen

Von Tilman Wörtz
"Die Stadt, die niemals schläft" beschrieb sie die Shanghai Daily. Nicht nur mit Paris, sondern gleich mit New York vergleichen die Shanghaier ihre Metropole. Und vertrauen darauf, auch mit hinkenden Vergleichen ans Ziel zu kommen.

Vergleiche wie "Paris des Nahen Ostens" (Beirut), "Elbflorenz" (Dresden) oder "Paris des Orients" (Shanghai) waren mir immer suspekt. Sie hinken wie "Der Glöckner von Notre Dame". Wieso sonst müsste man einen anderen Ort als Vergleich heranziehen, der - diesen Gedanken drängt uns der rhetorische Kniff ja auf - einzigartig ist? Shanghai wird nicht nur mit Paris, sondern auch gleich mit New York verglichen, dem ultimativen Referenzwert für solche Fälle.

"Die Stadt, die niemals schläft" schrieb die Shanghai Daily in einem Artikel über die Renovierung eines Altstadtviertels, in dem es um Künstler und Gemüsehändler, aber von Anfang bis Ende nicht ums Nachtleben ging. Und die Washington Post frohlockte, dass sich "Shanghai auf Augenhöhe mit New York messen will". Diese Behauptungen lassen sich in drei Schritten wissenschaftlich widerlegen.

Erstens: Die zwei literarischen Shootingstars Chinas, Mian Mian und Wei Hui, haben die gleiche Lieblingskneipe: das Ying & Yang in der Nanchang Lu. Dabei können sich die beiden nicht ausstehen. Mian Mian behauptet, Wei Hui würde sie kopieren und will sogar spüren können, wenn aus einem leeren Glas auf ihrem Tisch vor wenigen Minuten noch Wei Hei ihren Cocktail genippt hat, bevor sie gegangen ist. Dermaßen in die Enge getrieben, zeigen die beiden Protagonistinnen des nächtlichen Schanghai, dass die Auswahl an akzeptablen Szene-Bars noch sehr begrenzt ist. Von New York kann man das nicht behaupten, oder?

Zweitens: Kann sich jemand den "Nabel der Welt" vorstellen, dessen Bewohner Nummernschilder für ihre Autos ersteigern müssen? Anders lässt sich der Verkehrskollaps in Schanghai nicht mehr vermeiden. 3.300 Euro pro Schild erzielte die Stadtverwaltung bei der letzten Versteigerung, das entspricht knapp dem durchschnittlichen Jahresverdienst eines Shanghaiers. Aus den Nachbarprovinzen gab es schon Beschwerden, weil halb Shanghai plötzlich zur Verwandtschaft in die Provinz gezogen ist - zumindest haben Kfz-Meldebehörden diesen Eindruck.

Drittens: Die Kulturrevolution verursacht "Nachbeben". Als vor kurzem ein Fahrraddieb in meinem Wohnareal erwischt wurde, haben ihm die Wachen Handschellen angelegt, das Fahrrad um seine Schulter gehängt und den armen Kerl die Straße hinunter bis zur nächsten Kreuzung getrieben. Dort haben sie ihn beschimpft, umso wüster, je mehr Menschen sich zu dem Spektakel gesellten. Viele fanden es lustig. Erst nach einer Viertelstunde kam die Polizei und führte den Dieb ordnungsgemäß ab. Nicht gerade eine Veranstaltung für liberale, weltoffene Erdenbürger.

Übrigens ist Wei Hui mittlerweile nach New York gezogen. Die "Augenhöhe" zwischen Shanghai und New York hat wohl noch nicht gestimmt, und Wei Hui ist keine Frau, die immer nur nach oben schauen will. Aber bei aller Häme, auch hinkende Vergleiche kommen irgendwann ans Ziel. Vielleicht spricht man in zehn Jahren nicht mehr von Stuttgart, Bilbao oder Nantes, sondern benennt diese Städte nur noch mit dem Namen, der ihr innerstes Wesen nach außen kehrt: "Shanghai des Westens".