Was wollen die Polen nur mit ihrer Realpolitik?
Was das mit der Quadratwurzel soll? Hört mir auf mit der Mathematik. Das hier ist Politik, sagen mir die deutschen Politiker, Publizisten und Experten, die ich täglich anrufe. Wie eine Mantra wiederholen sie ihre Kritik: Polen denkt anachronistisch. Sie setzen auf eine veraltete Vorstellung von Realpolitik. Machtverhältnisse aber seien nicht mehr das Wichtigste in der EU. Vielleicht ist das so.
Aber die polnischen Politiker sehen das anders. Und wenn man ehrlich ist, dann waren es nicht die Polen, die die Realpolitik erfunden haben. Wie ist das denn mit Frankreich? Charles de Gaulle und alle seine Nachfolger im Elysée-Palast haben mit Argusaugen darauf geachtet, dass die französischen Bauern ihre Privilegen nicht verlieren, die Brüsseler Pfründe. Und wie war das doch gleich mit Maggie Thatcher und dem britischen Rabatt? All das fragen die Warschauer Politiker. Auch Gerhard Schröder, finden sie, war eine Politik des nationalen Egoismus keineswegs fremd. Überhaupt Schröder. Dessen Politik gegen Amerika, sein Schulterschluss mit Putin, die deutsch-russische Ostseepipeline. Das alles hat das Vertrauen der Polen an der deutschen Partner in Frage gestellt.
Was bedeutet die Politik Gerhard Schröders für Polen?
Gerhard Schröder war kein Polenfresser, aber mit seiner Außenpolitik, die sich vor allem an nationalen Interessen orientierte, hat er den antideutschen Ressentiments in der polnischen Gesellschaft Auftrieb gegeben.
Die Kaczynski-Zwillinge sind im Juni 1949 geboren worden. Sie stammen aus einer patriotischen Warschauer Familie, in der man die Erinnerung an die Tragödie des Zweiten Weltkriegs wach hielt. Diese Erfahrung spiegelt sich nun in der Vorsicht gegenüber Deutschland wieder. Aber nicht nur. Auch gegenüber den Russen sind die Kaczynskis vorsichtig. Im Bund mit Hitler-Deutschland hatten diese Polen tatsächlich gefressen. Dennoch hatten sie lange kein besonders tiefes Interesse an Außenpolitik. Vor 1989 hatte Polen ohnehin keine richtige. Warschau musste nach 1989 erst lernen, sich international zu bewegen. Zunächst war klar: Die Nato und die EU würden die Leuchttürme sein, an denen man sich orientierte, denen man entgegenstrebte - ohne sich große Gedanken zu machen.
Aber nach den Beitritten zur Nato und zur EU tauchten die ersten Probleme auf. Müssen wir uns in der Irak-Frage auf die Seite Washingtons stellen - oder doch lieber auf die Seite Brüssels? Brauchen wir eine EU-Verfassung? Warum kriegen unsere Bauern eigentlich nur halb so viel Unterstützung wie die Bauern aus der Provence? Lässt uns der Westen im Stich, wenn die Russen uns den Gashahn abdrehen? In den vergangen Jahren ist Außenpolitik für Polen so zu einem einzigen Crashtest geworden. Und so testen wir auch die Grenzen der Belastbarkeit der Europäischen Union. "Wurzel oder Tod" - das ist ein Kurs, der aus einer Mischung aus Misstrauen und Unerfahrenheit erwachsen ist. Das Problem ist nur, dass dieser Weg in eine Sackgasse geführt hat: Sie kommen einfach nicht mehr raus.
Was haben die Polen falsch gemacht
Erst wenn man sich all diese Hintergründe des polnischen Verhaltens klar gemacht hat, kann man dazu übergehen, die polnische Regierung zu kritisieren. Und die Kritikpunkte sind kurz und durchschlagend: Warschau hat einen großen diplomatischen Fehler begangen: Denn den Kaczynski-Zwillingen ist es schlicht nicht gelungen, die anderen von ihren Vorschlägen zu überzeugen - nur, zumindest zu einem Teil, die Tschechen. Sie haben zu wenig angenommen, zu wenig gesprochen, zu wenige Anrufe getätigt. Und sie haben viel zu früh mit einem Veto gedroht.
Das ist im Kern das Versagen der polnischen Regierung: Sie hat ein großes Maß an Schwäche und Unwirksamkeit offenbart. Dennoch sieht es am zweiten Gipfeltag so aus, als könne Lech Kaczynski, der Präsident, im Brüsseler Kampf einen Erfolg erringen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ist klug. Sie weiß, dass sie nicht mit leeren Händen nach Hause zurückkehren kann. Deshalb geht sie auf die Polen zu. Aber so wird es eben gespielt, dieses europäische Theater: Am Ende muss jeder sagen können: "Guck' mal her. Ich habe etwas erreicht." Gibt es einen Kompromiss, wie er sich derzeit abzeichnet, könnten die Kaczynski-Zwillinge getrost sagen: "Es ist zwar keine Wurzel herausgekommen. Aber wir haben Nizza erhalten. Und dafür wollten wir auch schon mal sterben."