Geiseldrama in Russland Entführer lassen 31 Geiseln frei

Für 31 Frauen und Kinder hat das seit Mittwochmorgen dauernde Entführungsdrama in der Schule von Beslan im Süden Russlands ein Ende. Doch noch befinden sich über 300 Menschen in der Gewalt der Terroristen.

Die schwer bewaffneten Geiselnehmer haben nach Angaben des russischen Einsatzkommandos mit Granaten auf zwei Autos geschossen, die sich ihrer Ansicht nach zu sehr der Schule genähert hatten. Die beiden Explosionen hatten die Angehörigen in Angst und Schrecken versetzt.

Russlands Präsident hatte am Donnerstagmittag gesagt, dass er nicht beabsichte die Schule mit Gewalt zu räumen. "Unsere Hauptaufgabe ist es, das Leben und die Gesundheit derjenigen zu bewahren, die als Geiseln genommen worden sind", sagte er am Donnerstag. "Alle Handlungen unserer Einsatzkräfte werden eingesetzt, um diese Aufgabe zu lösen", so Putin in einer Fernsehansprache.

Am Morgen ist es zwischen Geiselnehmern und Wachpersonal zu Schießereien gekommen. In der Turnhalle der Schule werden seit Mittwochmorgen 350 Schüler, Lehrer und Eltern festgehalten. Verhandlungen mit den Geiselnehmern wurden in der Nacht zum Donnerstag ergebnislos abgebrochen. Die russischen Behörden schließen dennoch eine gewaltsame Befreiung der in einer Schule im südrussischen Beslan festgehaltenen Geiseln vorerst aus. "Der Einsatz von Gewalt steht im Moment überhaupt nicht zur Debatte", sagte der örtliche Chef des Inlands-Geheimdienstes FSB, Waleri Andrejew, vor Journalisten. Man richte sich vielmehr auf lange Verhandlungen ein, um die Geiselnahme zu beenden.

Befreiung nach dem Motto: "Erst schießen, dann denken"

Der Wille zur friedlichen Beendigung der Geiselnahme hat vermutlich rein politische Gründe. Denn die russischen Anti-Terror-Einheiten sind nicht gerade für überlegte Befreiungsaktionen bekannt. Kritiker werfen ihnen vor, nach dem Motto "Erst schießen, dann denken" vorzugehen. So wird bei Stürmungen oft nicht zwischen Geiseln und Geiselnehmer unterschieden. Als tschetschenische Terroristen im Oktober 2002 in einem Moskauer Musical-Theater 800 Besucher in ihrer Gewalt hatten, sah die Bilanz nach der Befreiung verheerend aus: Alle Geiselnehmer und 129 Geiseln starben damals durch den Einsatz von Betäubungsgas.

Terrorismus-Experten glauben deshalb auch, dass der rabiate Einsatz russischer Spezialkräfte von den Terroristen einkalkuliert ist. Der erneute Tod hunderter Unschuldiger bei einer Befreiung würde das Ansehen von Staatspräsident Putin erheblich schmälern.

So lehnen die Geiselnehmer dem Vernehmen nach ein Angebot des ungehinderten Abzugs ab. Übermittelt wurde dieser Vorschlag vom in Russland bekannten und Kinderarzt Leonid Roschal, der schon 2002 bei der Geiselnahme militanter Tschetschenen im Moskauer Musical-Theater den Gefangenen geholfen hatte. Die Gespräche wurden nach einer Meldung der Nachrichtenagentur Interfax gegen 3.00 Uhr früh ergebnislos abgebrochen.

Die Angaben zur Zahl der bisher in Beslan getöteten Menschen schwanken zwischen 7 und 16. Nach korrigierten Behördenangaben sind zwölf Menschen getötet worden. "Die Angaben über die Zahl der Verletzten werden noch präzisiert, einige von ihnen könnten auch unter den Geiseln im Schulgebäude sein", teilte der Polizeichef der Teilrepublik Nordossetien, Kasbek Dsantijew, mit. Die Terroristen halten insgesamt 354 Menschen in der Turnhalle der Schule in ihrer Gewalt.

Der nordossetische Regierungsberater Lev Dsugajew gab die Gesamtzahl der Geiseln mit 354 an. Unklar blieb die Versorgungslage der Eingeschlossenen am zweiten Tag der Besetzung. Die schwer bewaffneten Angreifer wiesen das Angebot zurück, Wasser und Lebensmittel in die Schule zu bringen. Dsugajew sagte jedoch, eine erste Kontaktaufnahme deute darauf hin, dass die Schüler "mehr oder weniger annehmbar" behandelt würden. Die Kinder seien von den erwachsenen Geiseln getrennt worden.

Mehr als 1000 Angehörige und Freunde harrten in der Nacht vor der Schule aus. Sie wurden mehrfach in Schrecken versetzt, als Schüsse aus dem Gebäude zu hören waren. Auf dem Dach der Schule verschanzte sich einer der Geiselnehmer mit einer Schusswaffe. Das Gebäude wurde von Mitgliedern einer Spezialeinheit umstellt.

Die Angreifer hatten die Schule am Mittwochmorgen nach einer Feierstunde zu Beginn des neuen Schuljahres gestürmt, zu der viele Kinder von ihren Eltern begleitet wurden. Nach dem Überfall auf die Schule kam es zu einem Feuergefecht.

Zu dem Überfall bekannte sich bereits die islamistische Gruppe "Islambuli-Brigaden". Diese hatte auch die Verantwortung für die Entführung zweier russischer Flugzeuge übernommen, die Ende August mit 90 Insassen abgestürzt waren. Beobachter äußerten aber Zweifel an den Angaben der Gruppe. Ein Vertreter des tschetschenischen Rebellenführers Aslan Maschadow wies eine Verwicklung in die Geiselnahme zurück. Auf einer tschetschenischen Website wurde auch die Vermutung zurückgewiesen, dass die Organisation des tschetschenischen Rebellen Schamil Bassajew für die Erstürmung der Schule verantwortlich sein könnte.

Der Weltsicherheitsrat in New York verurteilte die Geiselnahme sowie den blutigen Selbstmordanschlag in Moskau vom Dienstag und die Terroranschläge auf die russische Flugzeuge in der vergangenen Woche. Das Gremium rief alle Regierungen auf, mit den russischen Behörden zusammenzuarbeiten, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Weiter hieß es in der Erklärung des Sicherheitsrats: "Terror in allen seinen Formen und Ausprägungen stellt eine der ernsthaftesten Bedrohungen für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit dar." Kein Terrorakt sei zu rechtfertigen, ungeachtet der Beweggründe der Täter. US-Präsident George W. Bush rief Putin an und bot ihm die Hilfe der USA bei der Lösung der Geiselkrise an. Bush habe betont, dass die USA und Russland Seite an Seite gegen den Terror kämpften, erklärte Putins Presseamt.

AP · DPA · Reuters
DPA/AP/Reuters