Gigant China Der Drache wird erwachsen

Von Lenz Jacobsen
Vom maroden Riesenreich zum Superstar der Weltwirtschaft: China hat in den vergangenen dreißig Jahren eine einzigartige Erfolgsstory hingelegt - vor allem dank der Mithilfe des Westens. stern.de erklärt, warum der chinesische Drache noch lange nicht ausgewachsen ist.

2009 wird China Weltmeister. Ausgerechnet in einer Disziplin, in der Deutschland jahrzehntelang Titel einheimste. 2009, da sind sich alle Experten einig, ist das Jahr, in dem China Deutschland vom Thron stürzt und Exportweltmeister wird. Spätestens dann werden auch hierzulande die letzten erkennen, mit welchem Tempo das Mammut-Reich die globale Hackordnung durcheinanderwirbelt. Denn was für die Deutsche Industrie das Ende einer Epoche sein wird, ist für China nur eine weitere Wegmarke ihres Sturms an die Spitze der Weltwirtschaft.

Die harten Zahlen dieses Booms sind so beeindruckend wie eindeutig: In keinem Land der Erde ist die Wirtschaft so schnell und konstant gewachsen wie in China - seit drei Dekaden um fast zehn Prozent jährlich. Fast siebzigmal so groß wie 1978 ist dadurch die Wirtschaft heute. Jährlich entstehen fast 10 Millionen neue Arbeitsplätze. In den Städten haben sich die Löhne in allein in den letzten zehn Jahren fast vervierfacht.

Wirtschaftsreformen unter Deng Xiaoping

Wie konnte ein Land, das sich jahrzehntelang von der Welt abgekoppelt hatte und nach innen eine marode Planwirtschaft betrieb, plötzlich zum großen Gewinner der Globalisierung, der freien Warenströme, werden?

Die einzigartige Geschichte dieses Aufstiegs beginnt im Jahre 1978, und sie beginnt mit einem unglaublichen Frevel: "Einige müssen zuerst reich werden" verkündete damals Deng Xiaoping, erst seit einigen Monaten Führer des kommunistischen Riesenreiches. Von nun an, so erklärte er seinen Landsleuten, sei nicht mehr der Klassenkampf, sondern die Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit das oberste Ziel der Politik.

Eine ungeheuerliche Ansage für den Oberkommunisten eines Landes, in dem qua Gesetz alle gleich zu sein hatten, in dem soziale Unterschiede und private Leistungen als Verrat am System galten; In dem Land, dass immer wieder Tausende Oppositionelle und Akademiker tötete, nur um das Märchen von der Gleichheit aller Menschen zu retten. Es war eine Kehrtwende um 180 Grad.

Behutsam löste Deng die starren und ineffizienten Produktionsgenossenschaften auf, erlaubte seinen Bürgern Privateigentum. Vor allem aber machte er Schluss mit der bis dahin totalen wirtschaftlichen Abschottung des Landes. "Wir müssen unser Land der Welt zugänglich machen, das bringt uns keinen Schaden", erklärte er - und erwies sich damit schon früh als Prophet der Globalisierung. In den Küstenstädten richtete er erste Sonderwirtschaftszonen ein, die ausländischen Investoren erlaubten, ihr Geld in China anzulegen.

Renditeversprechen locken das Ausland

Was dann folgte, nennt Markus Taube "die größte Marketingstory des 20.Jahrhunderts." Taube ist Professor für Ostasienwirtschaft an der Uni Duisburg/Essen. Er sagt: "Vor 20, 30 Jahren war da doch nichts, man hat den Investoren ein vollkommen heruntergewirtschaftetes Land als die Erfolgstory des 21. Jahrhunderts verkauft." Und die Investoren bissen an: In den ersten Jahren vor allem die Auslandschinesen, später auch westliche Firmen errichteten Dependancen und Fabriken bevorzugt im urbanen Streifen an der Ostküste Chinas.

Das Killer-Argument, das jeden noch so vorsichtigen Investor nach China trieb, nennt Marcus Taube im Fachjargon "Leverage". Leverage steht für Hebel - es bezeichnet quasi das Renditeversprechen eines Investments, wie sehr sich einmal in China investiertes Geld also rentiert. Und dieser Hebel ist in China riesig, schließlich lockt ein Markt mit 1,3 Milliarden potentiellen Kunden. "Bei Luxemburg hätte das keinen interessiert", kommentiert Taube.

Steigt einmal ein Unternehmen in China ein, müssen alle direkten Konkurrenten direkt nachziehen: "Da wird dann nicht mehr rein profitorientiert, sondern strategisch investiert", erklärt China-Experte Taube. "Denn wenn einer sich in China tatsächlich durchsetzt und die Konkurrenz nicht, dann ist sein Vorsprung gewaltig. Deshalb sind die Industrien gleich in ganzen Clustern rübergegangen." Die für westliche Firmen traumhaft niedrigen Löhne taten ihr Übriges.

Kein Aufschwung aus eigener Kraft

China hat seinen Aufschwung also keineswegs aus eigener Kraft geschafft, sondern würde dabei vom Westen freundlich unterstützt. Die Direktinvestitionen explodierten geradezu. Über 60 Milliarden Dollar pumpten ausländische Firmen allein 2006 in das Land, 20 Jahre zuvor war es gerade mal 2 Milliarden. Im Gegenzug investieren chinesische Firmen nur einen Bruchteil dieser Summen auf ausländischen Märkten. "Den Direktinvestitionen hat China seinen Boom zu verdanken", stellt Marcus Taube klar. Überhaupt nicht bezifferbar ist das Know-how, die Kontakte und die Strukturen, die westlichen Firmen nach China mitbrachten - und die sich die Chinesen gerne abguckten.

Und so ist aus dem ehemals maroden Reich zumindest in Teilen ein gewisser Wohlstand eingezogen. Hatte 1990 gerade mal einer von hundert Chinesen ein Telefon, sind es heute 64 - Handys noch nicht mitgerechnet. Ähnlich bei den Autos: 1990 besaß nicht mal jeder hundertste Haushalt ein Auto oder Motorrad, heute ist es jeder zweite.

Wohlstand bleibt in den Städten hängen

Der Wohlstand erreicht allerdings nicht die chinesische Landbevölkerung, sondern konzentriert sich in den neuen Wirtschaftshochburgen. Die Ungleichheit ist riesig: Die Löhne in den Städten sind mindestens dreimal so hoch wie auf dem Land, Kinder besuchen dreimal so häufig die Oberschule. Die Wahrscheinlichkeit zu studieren ist in den Ballungszentren gigantische 68 mal höher als auf dem Land. Der Lebensstandard in den dünn besiedelten Weiten Westchinas ist noch immer auf Dritte-Welt-Niveau. Das ist wohl die negative Seite des Deng Xiaoping-Satzes "einige müssen zuerst reich werden".

Diese soziale Kluft wird wohl in den nächsten Jahren nicht verschwinden: ""Den Rückstand, den Teile Chinas schon jetzt haben - der wird bleiben", ist sich Experte Taube sicher, "sowas ist verdammt schwer aufzuholen." Dazu kommt der ungeheure demographische Druck: Jedes Jahr werden fast 20 Millionen neue Chinesen geboren, 5,5 Millionen Studenten strömen aus den Universitäten - all diese Menschen wollen teilhaben am ökonomischen Erfolg.

Der Boom hat jahrelang den Blick getrübt für die Probleme im Riesenreich. "Das Wirtschaftswachstum wird erkauft durch soziale Verwerfungen, Raubbau an der Natur und Energieverschwendung", sagt Taube, und warnt: "das kann nicht mehr lange gut gehen." Das Heer der einfachen Landarbeiter ist quasi rechtlos, für den Bau riesiger Staudämme werden Hunderttausende umgesiedelt. Und die steigenden Lebensmittelpreise treiben Hunderttausende in die Armut und auf die Straße.

"China muss diese Faktoren einpreisen", fordert Markus Taube. Heißt: Die Löhne und Preise müssen noch weiter steigen, auf ein faires, realistisches Niveau. Höhere Löhne aber verändern die ganze Wirtschaftsstruktur in dem Riesenreich: Mittlerweile ist Arbeitskraft in anderen Ländern wie Indonesien weitaus billiger zu haben. Deshalb wandert gerade die einfache Produktion schon wieder aus China ab - zum Beispiel die Textilindustrie. China wird wohl nicht mehr lange die Nähkammer der Welt sein.

Stattdessen steigt das Land jetzt massiv in den Elektronikmarkt ein, sogar einfacher Maschinenbau siedelt sich mittlerweile an. "Die gehen ganz gezielt nach oben", sagt Markus Taube dazu. China nimmt gerade die nächste Stufe auf dem Weg vom Entwicklungsland zum modernen Industriestaat.

Und genau an diesem Punkt stellt sich eine drängende Frage, die jahrelang vom wirtschaftlichen Aufschwung in den Hintergrund gedrängt wurde: Die Systemfrage. Denn China ist noch lange keine freie Marktwirtschaft. Auf allen Ebenen ist die Verflechtung zwischen Partei und Unternehmen geradezu inzestuös, ohne gute Kontakte in die Politik kann man im Wirtschaftswunderland nichts werden. Parteisekretäre gründen Milliardenunternehmen, 90 Prozent der wirtschaftlichen Oberschicht sind gleichzeitig Parteikader. Experten sprechen deshalb von einem "Kaderkapitalismus".

Und genau diese hierarchische Wirtschaftsstruktur wird für China zum Problem: "Der Staat ist auf allen Ebenen der zentrale Akteur in der Wirtschaft. Das kann kurzfristig helfen, langfristig führt das ins Desaster", warnt Experte Taube. Denn: "Je komplexer und weiter entwickelt die Wirtschaft ist, desto schlechter lässt sich das zentral steuern. Das geht nur dezentral, wenn man auch Trial und Error zulässt." Wenn also jeder die Freiheit hat, sein ökonomischen Glück auf eigene Faust zu suchen.

Es ist eigentlich ganz einfach: Nur, wenn China die marktkapitalistischen Prinzipien des Westens von Eigenverantwortung und Risikobereitschaft übernimmt, wird es mit ihm auch auf höchstem Niveau konkurrieren können.

Wie lange hält China das Tempo durch?

Ob das Riesenreich sein bisheriges Tempo im Wirtschaftswachstum auch mittel- und langfristig beibehalten kann, ist dementsprechend schwer vorherzusagen. Markus Taube wagt trotzdem eine Prognose: "Teile Chinas, zum Beispiel der weit entwickelte Küstenstreifen, könnten in 20-30 Jahren das Niveau von Portugal erreichen." Das wäre schon ein gigantischer Erfolg. Denn noch rangiert China beim individuellen Wohlstand weit hinter allen Ländern der westlichen Welt: Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt liegt gerade einmal bei 2500 Dollar, damit steht China weltweit auf Rang 106, zwischen Swasiland und Marokko.

Da ist noch eine Menge Luft nach oben. Der Chinesische Drache ist aus den Kinderschuhen heraus, er ist groß und selbstbewusst genug, um sich Respekt zu verschaffen - aber er ist noch lange nicht ausgewachsen.