Häusliche Gewalt Der größte Kinohit seit Jahren: Ein Schwarz-Weiß-Film bewegt ganz Italien

Paola Cortellesi übernimmt in ihrem Regie-Debüt auch die Hauptrolle. 
Paola Cortellesi übernimmt in ihrem Regie-Debüt auch die Hauptrolle. 
© Tobis Film
Die Tragikomödie "Morgen ist auch noch ein Tag" handelt von häuslicher Gewalt in den 1940er-Jahren. Der Film trifft einen Nerv in der Gesellschaft und macht seine Regisseurin ungeahnt zur Sprecherin italienischer Frauen. Bald kommt er auch in die deutschen Kinos.

Man zuckt zusammen, wenn der Ehemann mit der Hand ausholt. Doch die Ohrfeige bleibt aus. Das Paar gleitet ineinander, bewegt sich rhythmisch zu Rockmusik – eine Szene zwischen Tanz und Kampf. Sie nimmt der Gewalt ihre Wucht, lässt sie abstrakt, lächerlich, komisch aussehen. Mit großer Leichtigkeit und Ironie erzählt die Regisseurin Paola Cortellesi, die zugleich die weibliche Hauptrolle spielt, vom Alltag der Frauen im Nachkriegs-Italien. Es ist eine Geschichte von Armut und häuslicher Gewalt, von Solidarität unter Frauen und dem Mut zur Befreiung. 

Auffällig schon bei der Ausgestaltung: gedreht in Schwarz-Weiß, aber mit aktuellem Soundtrack

Delia, Mutter von drei Kindern, ist mit Ivano verheiratet, der sie andauernd schlägt, um seinen Frust loszuwerden. Eines Tages findet sie die Kraft, sich aufzulehnen, den Erwartungen von Familie und Gesellschaft trotzend. Das Sittengemälde ist in Anlehnung an die politisch motivierten Filme des Neorealismus der 1940er-Jahre in schwarz-weiß gedreht, was die Vergangenheit, die gezeigt wird, verdringlicht. Gezeigt wird Rom am Vorabend der Abstimmung über die Einführung der Republik 1946, bei der die Italienerinnen zum ersten Mal gewählt haben. Aber natürlich ist das Werk viel mehr als ein Epochenfilm. 

Regisseurin und seit Kurzem auch eine Sprecherin für Italiens Frauen: Regisseurin Paola Cortellesi 
Regisseurin und seit Kurzem auch eine Sprecherin für Italiens Frauen: Regisseurin Paola Cortellesi 
© Tiziana Fabi / AFP

Die Schwarz-Weiß-Bilder sind, den Eingangssong einmal ausgeklammert, mit aktuellen, rhythmischen Musikstücken unterlegt. Bei ihrem zwischen Drama und Komödie changierenden Regiedebüt gelingt der Schauspielerin und Komikerin Cortellesi, ganz im Stil von Roberto Benignis Tragikomödie "Das Leben ist schön" einen historischen, im Kern schweren Stoff auf humorvolle, geradezu leichte Weise abzubilden – und nicht zuletzt durch den Soundtrack in der Gegenwart zu verorten. Aus sicherem Abstand blickt man auf das Geschlechterverhältnis von damals und fragt sich: Wie sieht es heute aus? Was hat sich verändert, und was nicht? Die Antworten sind, je nach Standpunkt, nicht immer befriedigend. Auch deshalb hat "Morgen ist auch noch ein Tag" in Italien einen Nerv getroffen. 

Paola Cortellesi übernimmt in ihrem Regie-Debüt auch die Hauptrolle. 
Paola Cortellesi übernimmt in ihrem Regie-Debüt auch die Hauptrolle. 
© Tobis Film
"Morgen ist auch noch ein Tag" – "C'è ancora domani" im Trailer

Die Italiener klatschen im Kinosaal, das gab es lange nicht mehr

Es ist Jahre her, dass ein italienischer Film Kinosäle füllte und am Ende sogar frenetisch beklatscht wurde. Der Film hat seit Oktober fünf Millionen Zuschauer vor die Leinwand gelockt und war damit der besucherstärkste Streifen in 2023. Er landete außerdem als erster Film einer Regisseurin unter den Top Ten der meistgesehenen italienischen Filme aller Zeiten. 35 Millionen Euro hat er in Italien bereits eingespielt und wurde weltweit eingekauft. Am 4. April ist Kinostart in Deutschland

Paola Cortellesi, die das Werk gemeinsam mit den Drehbuchautoren Furio Andreotti und Giulia Calenda geschrieben hat, ließ sich von den Erzählungen ihrer Großmutter und Urgroßmutter inspirieren. "Die Geschichte ist sehr realistisch. Viele Frauen, die selbst keine Gewalt erlebt haben, hörten jedoch in der Familie davon. Und selbst wenn nicht, kommen einem diese Episoden dennoch bekannt vor. Sie haben einen Nachhall", sagt Chiara Saracen, emeritierte Professorin für Soziologie, zum Hype um den Film.

Sind Frauen wirklich sicher im heutigen Italien?

Zudem hatte wenige Wochen nach dem Kinostart die Ermordung einer Studentin in Italien eine große Debatte über Gewalt gegen Frauen ausgelöst. Die 22-jährige Giulia Cecchettin aus der Nähe von Venedig wurde von ihrem Ex-Freund und Kommilitonen erstochen, zuvor hatte sie mit ihm Schluss gemacht. Ein Femizid, der das Land aufwühlte, auch weil es davon viele gibt. Beide, Cecchettin wie der Mörder, entstammten dem bürgerlichen Milieu Norditaliens. Cecchettins Schwester reagierte kämpferisch und forderte dazu auf, das gesellschaftliche Problem hinter der Tat zu sehen, statt auf den Ex-Freund als Einzeltäter zu schauen. Seither diskutiert Italien erregt, wie patriarchalisch die Gesellschaft immer noch ist. 

"Morgen ist auch noch ein Tag" erfuhr vor diesem Hintergrund eine ungeahnte Aktualität, Cortellesi wurde zur informellen Sprecherin für das Thema Gewalt in Beziehungen. In Italien passieren mehr als 100 Feminizide pro Jahr, jeden dritten Tag wird eine Frau ermordet. Schulklassen zwischen Turin und Bari bekommen nun Cortellesis Kinofilm zu sehen, gewissermaßen zu Aufklärungszwecken, aber auch als Debattenstoff für den Unterricht.

Frauen verstecken ihr selbstverdientes Geld vor ihren Partnern

"Es gibt aber nicht nur ein Problem der Gewalt", sagt Saraceno. "Sehr oft verlangen Männer heute noch, dass Frauen sich ihnen unterordnen. Dann verstecken diese ihr selbstverdientes Geld vor dem Ehemann, wie Delia im Film." Es passiere, dass Frauen sich etwas aus dem Haushaltsportemonnaie abzweigen, als ob ihnen dieses Geld nicht zustehen würde; als hätten sie kein Recht, über das gemeinsame Geld zu verfügen. "Viele, die Geld verdienen, liefern es nach wie vor dem Ehemann ab", so die Soziologin. Oft werde ein gemeinsames Haus auch nur auf den Namen des Mannes eingetragen, obgleich beide mitfinanziert haben.

"Es gibt noch zu viele toxische Beziehungen, weil Frauen finanziell abhängig sind. Weil die Männer nicht akzeptieren, dass ihre Ehefrauen durch ihren Beruf selbständig sind. Weil Männer nicht akzeptieren, dass Frauen sich trennen", erklärt Saraceno. In Italien ist nur knapp die Hälfte der Frauen berufstätig. Die Aufgaben, die bei der Pflege und Sorge innerhalb einer Familie anfallen, werden zu drei Vierteln immer noch von Müttern und Töchtern übernommen. Care-Arbeit ist in Italien Frauensache, immer geblieben."Das spezifisch italienische Problem ist jedoch die im Vergleich zu Deutschland und Frankreich größere Ungleichheit am Arbeitsmarkt", sagt die Professorin. 

Auf die Realität reagieren viele Unternehmen fast beleidigt

Mutterschaft bleibt in Italien ein Karrierekiller. Ein Viertel der Frauen kündigt nach dem ersten Kind. 70 Prozent der Beschäftigten, die ihre Arbeit aufgeben, sind weiblich, und sie tun es, um in der Familie Aufgaben zu übernehmen. "Die Männer kündigen, weil sie einen besseren Job gefunden haben. Die Frauen haben einen unbezahlten Job, den sie nicht mit ihrer Berufstätigkeit vereinbaren können, und kündigen deshalb. Oder sie werden von Arbeitgebern oder Kollegen gemobbt, sie werden versetzt oder es wird ihnen keine Flexibilität bei der Arbeitszeit eingeräumt", sagt Saraceno.

Das sei auch ein kulturelles Problem, da ist sie sich sicher. "Ich habe mal ein Seminar vor Unternehmern gehalten und ihnen diese Zahlen vorgelegt. Sie reagierten beinahe beleidigt. Aber es sind empirische Daten, die eine reale Situation beschreiben", so Saraceno. Der Film, der jetzt allseits gefeiert und diskutiert wird, spiegelt solcherlei wirtschaftliche Abhängigkeiten, er zeigt historische Kontinuitäten auf. Delias Tochter darf nicht zur Oberschule gehen, obwohl sie möchte. Ihr Ehemann Ivano geht in die Kneipe und Delia fehlt das Geld, um sich eine Bluse zu kaufen.

"Es ist wichtig, dass die junge Generation diese Ungerechtigkeiten erkennt. Die Szenen im Film sind so offensichtlich ungerecht", sagt Saraceno. Cortellesis Film rüttelt auf und berührt zugleich, weil er beschwingt, klug und doch ohne moralischen Zeigefinger daherkommt. "Morgen ist auch noch ein Tag" entlässt einen begeistert, mit frischem Mut, ja vielleicht gar mit der unbeirrbaren Hoffnung, dass sich an den Zuständen bald etwas ändern möge.