Italien Femizide: Warum eine junge Generation nicht mehr stillhalten will

Eine Frau hält ein Protestschild in die Höhe
"Wir wollen uns am Leben" und "Er war euer guter Junge" steht unter anderem auf den Schildern der Demonstrierenden in Mailand, die am vergangenen Mittwoch nach dem Mord an einer 22-Jährigen durch die Stadt zogen.
© Piero Cruciatti / AFP
Seit dem Mord an einer 22-jährigen Studentin vor knapp zwei Wochen debattiert Italien darüber, wie Frauen besser vor Beziehungstaten geschützt werden können. Auch Regierungschefin Meloni meldet sich zu Wort. Warum reagiert das Land gerade jetzt so heftig? 

Der Fall trifft die Mitte der italienischen Gesellschaft, das bürgerliche Milieu, das Umfeld der Universitäten. Giulia Cecchettin aus Vigonovo bei Venedig wird am 11. November von ihrem Ex-Freund und Kommilitonen Filippo Turetta, 22, ermordet. In seinem Fiat Punto in einem abgelegenen Gewerbegebiet kommt es nach dem Abendessen zum Streit, weil die 22-Jährige Schluss gemacht hatte. Wie man später auf Videoaufzeichnungen sieht, steigen die beiden aus dem Wagen, er prügelt sie zu Boden, fesselt sie, schafft sie mit dem Auto fort.  

Die Fahrt durch die Nacht endet an einem Bergsee bei Pordenone, wo der 22-Jährige seine Ex-Freundin erstochen haben soll. Eine Woche später findet die Polizei ihren leblosen Körper mit Plastikfolie überdeckt nahe einer Schlucht. Der mutmaßliche Täter setzt sich noch in der Nacht nach Deutschland ab und wird später auf der A9 bei Naumburg in Sachsen-Anhalt gefasst. In wenigen Tagen soll er nach Italien ausgeliefert werden. 

Giulia war eine angehende biomedizinische Ingenieurin, ihre Abschlussprüfung an der Universität von Padua stand unmittelbar bevor. Filippo war in demselben Studiengang, aber weniger erfolgreich. Ihre Schwester Elena Cecchettin sagt, er habe Druck auf Giulia ausgeübt, ihre Prüfungen nicht so schnell abzulegen. Die Vorstellung, dass sie vor ihm fertig würde, sei für ihn unerträglich gewesen, so Elena. "Das waren bereits die ersten Alarmglocken", glaubt sie. Nach ihrer Trennung habe Filippo Giulia bedrängt, zu ihm zurückzukommen. 

Menschenmassen versammeln sich vor der Universität von Mailand zum Protest
Protestierende versammeln sich vor der Universität von Mailand, um gegen Gewalt an Frauen zu marschieren. Seit dem Mord an der Studentin Giulia Cecchettin kommt es in Schulen und Unis vermehrt zu spontanen Aktionen.
© Piero Cruciatti / AFP

Der Mord an der 22-jährigen Studentin erschütterte die Menschen wie kaum ein Frauenmord zuvor in Italien. In vielen Städten kam es zu Demonstrationen, Sit-Ins und Besetzungen von Schulhäusern. Eine junge Generation will nicht mehr stillhalten. Für den "Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen" an diesem Samstag sind Protestmärsche und Kundgebungen im ganzen Land geplant. Auch Ministerpräsidentin Giulia Meloni meldete sich zu Wort. "Jede einzelne Frau, die getötet wird, weil sie 'schuldig' ist, frei zu sein, ist eine Anomalie, die nicht akzeptiert werden darf", so die Regierungschefin. Einem Bericht der Vereinten Nationen zufolge, der diese Woche vorgestellt wurde, stieg die Zahl der erfassten Femizide 2022 weltweit auf den höchsten Stand seit zwei Jahrzehnten. Nach einer Statistik des Innenministeriums gab es in Italien seit Beginn des Jahres bereits mehr als 100 Femizide.

Die emeritierte Professorin Chiara Saraceno aus Turin ist eine der renommiertesten Soziologinnen in Italien mit dem Schwerpunkt Familie und Frauen. Saraceno ist Publizistin und Buchautorin, sie wurde 2005 mit dem Verdienstorden der Italienischen Republik ausgezeichnet. Der stern sprach mit ihr über den Fall Cecchettin.

Professorin Chiara Saraceno
Die emiritierte Professorin Chiara Saraceno ist Fellow des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung und Mitglied des angesehenen Collegio Carlo Alberto in Turin.
© privat

Professorin Saraceno, warum löst der Mord an Giulia Cecchettin so heftige Reaktionen aus? 

Die Italiener identifizieren sich mit ihr. Sie wird als "eine von uns" wahrgenommen. Sie ist jung und entstammt keinem marginalisierten Milieu. Das macht einmal mehr deutlich, dass Frauenmorde in allen sozialen Schichten vorkommen, unabhängig von Einkommen und Bildung.

Der Protest ist lauter als je zuvor. 

Ja, auch deshalb, weil viele Leute dem Aufschrei von Giulias zwei Jahre älterer Schwester Elena gefolgt sind. "Lasst uns aufhören zu schweigen, lasst uns schreien und alles verbrennen", rief sie. Elena hat ihren privaten Schmerz in einen politischen Protest umgewandelt. Das ist sehr mutig von ihr und hat viele mitgerissen, sich den Demonstrationen anzuschließen. Interessant ist, dass gerade die junge Generation der Studenten aufgestanden ist und ihren Protest klar artikuliert hat. Man will nicht mehr einem Opfer still gedenken wie einer gefallenen Soldatin und ihrem unausweichlichen Schicksal, man will vielmehr die Missstände anprangern.

Was soll sich genau ändern? 

Es muss sich kulturell etwas ändern und in diesem konkreten Fall hätte es auch der größeren Aufmerksamkeit im Umfeld von Filippo bedurft, der Eltern, der Uni-Dozenten oder anderer Personen, die gemerkt hätten, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte. Filippo hatte ihr nach der Trennung aufgelauert und sie mehrmals bedrängt. Das war schon krankhaft. Sein Vater hat das Verhalten seines Sohnes jedoch später heruntergespielt. Die Tendenz ist oft zu verharmlosen und nicht zu akzeptieren, dass der eigene Sohn wie in diesem Fall psychologische Hilfe braucht. Hinzu kommt das Männerbild, demzufolge der Junge das Mädchen erobern soll, das ihm gefällt. Das wird dann zu einer explosiven Mischung.

Wie steht es um die Emanzipation in Italien? 

Das Verhältnis der Geschlechter ist viel zu oft noch sehr starr und asymmetrisch. Männer, die es normal finden, ihrer Partnerin ab und zu eine Ohrfeige zu verpassen und glauben, sie dürften ihr Handy überwachen. Aber auch Frauen, die diese Kontrolle mit Zuneigung verwechseln nach dem Motto: Er kontrolliert mich, weil er mich so sehr liebt. Diese Rollenbilder sind der Nährboden, auf dem ein krankhaftes Verhalten gedeihen kann.

Proteste gegen Frauenmorde gab es auch früher schon in Italien. Nur ging es danach meist weiter wie zuvor. 

Natürlich reichen die Proteste nicht aus, aber sie sind ein Zeichen der Veränderung. Es gibt immerhin ein Bewusstsein dafür, dass die Gewalt gegen Frauen kein Einzelfall ist. Nun müssen wir an dem kulturellen Nährboden arbeiten, das heißt, dass jeder Mann für sein Verhalten verantwortlich ist, insofern als er das private und öffentliche Männerbild mitprägt – als Vater, als Lehrer, als Journalist oder als Werbeagent, der mit Bildern arbeitet. Es heißt immer, die Mütter müssten ihre Söhne besser erziehen. Aber wir müssen die Männer stärker in die Verantwortung nehmen.

Ein Drittel der in Italien erfassten Morde sind Femizide

Nach Daten des italienischen Innenministeriums in Rom sind seit Jahresbeginn 102 Frauenmorde in Italien verübt worden - ein gutes Drittel der insgesamt 285 registrierten Morde in diesem Jahr. Davon geschahen 82 Frauenmorde innerhalb der Familie. In 53 Fällen waren die Partner oder Ex-Partner die Täter – vier Prozent mehr  als im Vorjahr.

  • Die Ärztin Francesca Romeo, 67, wird am 18. November 2023 im süditalienischen Reggio Calabria von einem Unbekannten mit Gewehrsalven im Auto niedergestreckt, als sie in Begleitung ihres Ehemanns vom Nachtdienst in einer ambulanten Einrichtung nach Hause zurückkehrt.  

  • Patrizia Lombardi, 54, Mutter von drei Kindern aus Capodrise in der Region von Neapel, wird am 14. November 2023 von ihrem Sohn erwürgt.

  • Cettina De Bormida, 69, stirbt am 10. Juni 2023 in Catania, Sizilien, weil sie ihrer Freundin geraten hatte, den gewalttätigen Ehemann zu verlassen. Als dieser davon erfährt, überfährt er beide Frauen mit seinem Auto. De Bormida starb, ihre Freundin überlebt. 

  • Giulia Tramontana, 29, im siebten Monat schwanger, wird am 27. Mai 2023 in Senago nahe Mailand von ihrem Partner Alessandro Impagnatiello erst vergiftet und dann mit 27 Messerstichen massakriert. 

In Italien engagiert sich der feministische Verein „Non Una Di ´Meno“ (Nicht eine weniger) seit 2016 gegen die Gewalt an Frauen. Der Verein entstand aus dem Verbund verschiedener Frauengruppen und schloss sich 2017 und 2018 dem globalen Aufruf zum Frauenstreik an. Am 25. November, dem „Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen“ hat „Non Una Di Meno“ Elena Cecchettin, die Schwester der ermordeten Giulia Cecchettin, eingeladen, in erster Reihe bei der Demonstration in Rom mitzulaufen und bei der Kundgebung das Wort zu ergreifen. 

Die Frauenmorde, die von Partnern oder Ex-Partnern begangen werden, sind in Italien sogar gestiegen. 2023 waren es bisher 53 Fälle. Sehen Sie da eine Tendenz? 

Nein, das sind geringe Schwankungen. Das Problem ist, dass die Frauenmorde nicht weniger werden, während die Zahl der Morde insgesamt abnimmt. Das bedeutet, die Tötung als Lösung eines Konflikts geht im Allgemeinen zurück, aber nicht im Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Das Thema der Gewalt betrifft folglich im großen Maße das Geschlechterverhältnis. 

Nach dem Mord an Giulia Cecchettin hat die Regierung Meloni angekündigt, die Finanzierung für Gewaltprävention zu erhöhen und ein Gesetz auf den Weg zu bringen. Der Bildungsminister will Verhaltensregeln in den Schulen einführen. Was erwarten Sie sich davon?  

Ich hoffe, dass die Frauenhäuser wieder besser finanziert werden, nachdem Meloni dort die Mittel gekürzt hatte. Die Wirkung von scharfen Gesetzen bezweifele ich. Der Ansatz, in die Schulen zu gehen, ist erstmal gut. Aber in Italien haben wir noch nicht einmal Aufklärungsunterricht. Es wird nicht gesprochen über einen gefühlvollen Umgang zwischen Jungen und Mädchen. Wir sind ein katholisches Land, da hat man Angst, dass die Schüler angestiftet werden, zu viel Sex zu haben.

Sie haben als Soziologin selbst Schulungen für Polizeikräfte zur Sensibilisierung geleitet. Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht? 

Das ist eine sehr gute Sache. Wir vermitteln den Polizisten, wie man die Gefahren der Gewalt gegen Frauen erkennt, wie man darauf reagiert, wenn eine Frau berichtet, sie sei von ihrem Mann geschlagen worden. Früher hat man versucht, die Frauen zu beruhigen und ihnen gut zuzureden. Jetzt sehen viele Ordnungshüter das mit anderen Augen. Man muss das Auge derjenigen, die uns beschützen sollen, ausbilden, damit sie die Gefahren erkennen.