Großbritannien Erst nach dem Tod bekommen die Opfer Aufmerksamkeit

mehrere Paar Schuhe stehen auf einer Treppe
Stiller symbolischer Protest gegen Femizide: Auf der ganzen Welt protestieren Frauenorganisationen am 25. November gegen Gewalt an Frauen.
© Markus Scholz / DPA
Seit 2009 sind knapp 2000 Frauen in Großbritannien Opfer eines Femizids geworden. Dabei hätten viele der Frauenmorde verhindert werden können. Das Problem: In der britischen Rechtssprechung kennt man den Begriff Femizid nicht. 

Einmal im Jahr, am internationalen Frauentag im März, wird es ganz still im ansonsten eher lauten britischen Unterhaus in London. Dann nämlich liest die Labour-Abgeordnete Jess Phillips die Namen aller im vergangenen Jahr im Königreich von Männern getöteten Frauen vor. Mehr als fünf Minuten dauert das üblicherweise, die Liste ist immer um die 100 Namen lang. 

Jess Phillips
Die Labour-Abgeordnete Jess Phillips (Mitte) verliest jedes Jahr im Unterhaus die Namen der in Großbritannien ermordeten Frauen.
© Stefan Rousseau/PA / DPA

Dieses Jahr standen darauf unter anderem die 59-jährige Jane Collinson, die am 4. März im nordenglischen Barnard Castle von ihrem Nachbarn mit einem Brotmesser ermordet wurde, sowie die am selben Tag in Blackburn von einem ihr unbekannten, mehrfach vorbestraften Mann attackierte Charlotte Wilcock, 31. Der Mann tötete sie mit mehr als 50 Messerstichen. Oder Emma Pattison, 45, Direktorin einer renommierten Privatschule, die am 5. Februar von ihrem Mann im gemeinsamen Haus im südenglischen Epsom erschossen wurde, zusammen mit ihrer achtjährigen Tochter Lettie 

Die Namen der getöteten Frauen sammelt seit 2013 Karen Ingala Smith und veröffentlicht sie auf ihrem Blog "Counting Dead Women" – "Tote Frauen zählen". Zusammen mit der Anwältin Clarissa O‘Callaghan gründete sie 2015 "Femicide Census", ein Projekt, das alle Fälle dokumentiert, in denen eine Frau an den Folgen einer durch einen Mann oder Männer ausgeübten Gewalttat starb. Die Plattform sei wichtig, "denn das Wort ‚Femizid‘ existiert bis heute nicht in der britischen Rechtsprechung", sagt O’Callaghan. "Dazu fehlt hier der politische Wille."  

Femizide laufen häufig unter "Totschlag" oder "Erweiterter Suizid"

Weil britische Richter und Anwälte den Begriff Femizid nicht verwenden, geht die beträchtliche Zahl der Tötungen von Frauen durch Männer im Königreich in der allgemeinen Statistik der Tötungsdelikte unter. "Die Fälle laufen dann beispielsweise unter Totschlag, weil der Täter vor Gericht erfolgreich argumentieren konnte, er habe zur Tatzeit an Depression gelitten oder etwa unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen gestanden und sei deshalb ‚temporär unzurechnungsfähig‘ gewesen", sagt O’Callaghan

Es gebe auffallend viele solcher Fälle, fügt sie hinzu. Andere Frauenmorde, wie der von Emma Pattison und ihrer Tochter, verschwänden in der "Mord-Selbstmord"-Statistik, weil sich Pattisons Ehemann kurz nach dem Doppelmord das Leben nahm. Er sei damit übrigens keine Seltenheit. "In rund 20 Prozent aller Femizide begehen die Täter unmittelbar nach der Tat Selbstmord."  

 Viele Frauenmorde könnten verhindert werden

Warum tun sich die Briten so schwer damit, ein Phänomen beim Namen zu nennen, das Länder wie Spanien oder Frankreich schon lange anerkannt haben? "Die Spanier orientieren sich am Vorbild von Mexiko und anderen zentralamerikanischen Ländern, wo die Zahl an Frauenmorden bekanntlich besonders hoch und die Aufklärungsrate gering ist." Die Briten hätten ein anderes Problem. "In den Fällen der Tötung von Frauen wird – bis auf ganz wenige Ausnahmen – der Täter schnell gefunden und verurteilt. Da funktioniert der ansonsten überforderte britische Rechtsapparat sehr gut." 

Das Problem sei vielmehr, dass viele Frauenmorde verhindert werden könnten, wenn Polizei und Ämter die Warnzeichen rechtzeitig ernst nehmen würden. So werde auf Anzeigen wegen Stalking oder häuslicher Gewalt nicht früh genug und manchmal gar nicht reagiert, dabei sprächen die Zahlen für sich. "In wenigstens 50 Prozent aller Femizide haben die Täter eine entsprechende gewalttätige Vorgeschichte."  

Das Projekt "Femicide Census" dokumentiert alle bekannten Fälle von Femiziden seit 2009 – "in diesem Jahr werden wir die Zahl von 2000 erreichen". Die kleine Organisation sammelt dabei nicht nur die Zahlen an sich, sondern untersucht auch sozio-ökonomische Merkmale – "auffallend viele Täter sind entweder ökonomisch inaktiv oder in Rente" – regionale Häufungen oder andere Zusammenhänge, nach denen O’Callaghan vergeblich suchte, als sie noch selbst als Anwältin Angehörige von Mordopfern vertrat. "Deshalb gründeten wir die Organisation." Ihre ehemalige Anwaltskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer unterstützt das Projekt bis heute pro bono 

 

Besonders gefährdet seien Frauen dann, wenn sie versuchten, eine missbräuchliche oder gewalttätige Beziehung zu beenden, sagt O’Callaghan. Das erkläre auch, warum die ansonsten gleichbleibende Femizid-Statistik während der Pandemie leicht rückgängig war, während die der häuslichen Gewalt anstieg. "Wegen der strengen Lockdown-Gesetze war es praktisch unmöglich, einer toxischen Beziehung zu entfliehen." Inzwischen sind die Zahlen wieder dort, wo sie immer waren: Im Schnitt jeden dritten Tag stirbt in Großbritannien eine Frau durch die Gewalt eines Mannes. Die Briten sind damit keine Vorreiter – Deutschland und Frankreich vermelden ähnliche Zahlen.  

Die Verankerung des Begriffs "Femizid" im britischen Recht ist ein wichtiger, aber nur der erste Schritt auf dem Weg des eigentlichen Ziels von "Femicide Census": die Verhinderung von Morden an Frauen. "Es ist traurig, dass in Großbritannien eine tote Frau mehr Recht erfährt als ein lebendes Opfer von Gewalt."