Sie leben überall in den USA, vor allem im Süden, oft auf engstem Raum, nicht selten zu viert, zu fünft in einem Zimmer. Sie bezahlen überhöhte Mieten, aber fliegen beim kleinsten Anlass aus ihren armseligen Behausungen. Fast alle von ihnen arbeiten, oft bis zu 14 Stunden am Tag, gerne auch für weniger als die Handvoll Dollar Mindestlohn.
Aufmucken, sich beschweren, dagegen klagen - für die Menschen die es eigentlich nicht gibt, gibt es so etwas nicht - ebenso wenig wie Arztbesuche, Auslandsreisen oder Aufenthaltsgenehmigungen.
Doch es sind viele, sehr viele sogar: Geschätzte zwölf Millionen illegale Einwanderer leben in den Vereinigten Staaten. Die meisten von ihnen stammen aus Lateinamerika, vor allem Mexiko, auch Chinesen sind unter den "Unsichtbaren". Sie leben, arbeiten und konsumieren im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, offiziell existieren tun sie nicht.
In den vergangenen Tagen aber haben sie ein Gesicht bekommen: Fast eine Million Menschen, illegale wie legale, sind in den USA auf die Straße gegangen, um gegen den Status der inoffiziellen Einwanderer zu protestieren. In New York, Chicago, Los Angeles und Miami: Einen Aufstand wie der der "neuen Sklaven" habe es in den Vereinigten Staaten seit der Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren nicht mehr gegeben, schreibt die römische Zeitung "La Repubblica" vielsagend.
Stichwort Einwanderungsgesetz
Ende 2005 hat das Repräsentantenhaus ein neues Einwanderungsgesetz beschlossen. Es sieht neben der Abschaffung der Green Card-Verlosung auch die Bekämpfung illegaler Zuwanderer vor. Der illegale Aufenthalt in den USA wird zu einem schweren Delikt erklärt, der mit Gefängnisstrafe geahndet werden kann. Der Senat hat dem Gesetz nicht zugestimmt. Ein, ebenfalls nicht beschlossener Kompromiss, sah vor, dass illegale Einwanderer, die mindestens fünf Jahre in den USA leben, die langfristige Möglichkeit einer Staatsbürgerschaft eingeräumt worden wäre. Dafür hätten sie jedoch Englisch lernen sowie eine Strafe und Steuern bezahlen müssen. Einer Umfrage zufolge unterstützt die Mehrheit der US-Bürger den liberaleren Vorschlag des Senats.
Anlass für die Massendemonstrationen ist die geplante Änderung der Einwanderungsgesetze. Bislang wurden die "Illegalen" in den USA per Verwaltungsakt mehr oder weniger unbürokratisch eingebürgert, zumindest wenn sie schon einige Jahre in den USA gelebt haben. Ähnlich verfahren auch Frankreich und Italien. Zudem gilt der inoffizielle Aufenthalt in den USA bislang nur als Ordnungswidrigkeit. Geht es jedoch nach dem Willen einiger Kongressabgeordneter so soll daraus künftig eine Straftat werden.
Diese Art der "formlosen" Einbürgerung dient nicht zuletzt dazu, regelmäßig Dampf aus den Kesseln abzulassen, in dem die Einwanderer köcheln. Doch der Druck nimmt zu, und die Immigranten spielen dabei ihren größten Trumpf aus: ihre Wirtschaftsmacht. Schätzungen zufolge überweisen allein die Mexikaner 20 Milliarden Dollar zurück in ihr Heimatland - das ist mehr, als sonst direkt in Mexiko investiert wird.
Folgenreicher Wirtschaftsboykott
Zum Hauptprotesttag am 1. Mai waren viele Immigranten ihrer Arbeit fern geblieben, und der erwünschte Wirtschaftsboykott blieb nicht folgenlos: Fabriken, Restaurants, Häfen und Agrarbetriebe mussten ihren Betrieb einstellen oder ihre Produktion drosseln, weil die Beschäftigten nicht zur Arbeit erschienen. Stark betroffen waren auch der Bausektor und die Kinderbetreuung. "Sie werden sehen, wie viel Geld Immigranten ausgeben und wie viel Einwanderer zur Wirtschaft dieses Landes beitragen", sagte ein Protestteilnehmer in San Francisco.
Das wissen auch die Konservativen im Land, die einerseits auf Recht und Ordnung pochen und denen die "Illegalen" ein Dorn im Auge sind. Andererseits wissen sie, dass es der US-Wirtschaft ohne die Illegalen an allen Ecken und Kanten zwicken und zwacken würde. "Die Republikaner sind in dieser Frage gespalten", sagt Wilfried Mausbach, Experte für soziale Bewegungen am Heidelberg Center for American Studies. Nicht zuletzt deshalb hängt das neue Einwanderungsgesetz in den beiden Kammern des Landes seit Monaten fest.
Es sind die einfachen Jobs, an denen sich die Einwanderer abarbeiten, körperlich anstrengende wie bei der Weizen- oder Baumwoll-Ernte, Handlangertätigkeiten in den großen Fabriken und nicht zuletzt verdingen sie sich millionenfach als Haushaltshilfen bei den Mittel- und Oberschichtsfamilien.
Auch innerhalb der "Illegalenszene" gibt es Aufsteiger, die nach Ansicht von Ulrich Bielefeld, Migrationsforscher am Hamburger Institut für Sozialforscher, die jüngsten Proteste maßgeblich mitinitiiert haben: "Sie haben sich Selbstbewusstsein und einen Status erarbeitet, der es ihnen erlaubt, auf ihre Rechte pochen zu können." Zudem seien die Einwanderer in den USA wegen ihrer Illegalität nicht aus der Gesellschaft vollständig ausgeschlossen. "Das ist anders als hier", so Bielefeld. Sie sind keine Bürger zweiter Klasse mehr, aber auch keine erster Klasse - sie sind mittendrin, aber trotzdem außen vor.
Bush braucht die Unterstützung "seiner" Latinos
US-Präsident George W. Bush braucht sich aber wohl nicht vor einer ausufernden Massenbewegung zu fürchten, wie seine Vorgänger in den 60er Jahren. Zum einen benötigt er die Unterstützung seiner Wähler, den vielen legalen Latinos, die sich wiederum mit den Forderungen ihrer illegalen "Landsleute" solidarisieren. Allzu harsche Gesetze gegen die Freunde seine Freunde sind von ihm kaum zu erwarten.
Auch Wilfried Mausbach tut sich schwer mit der Vorstellung, die Illegalen-Proteste könnten eine ähnliche Dimension annehmen, wie vor 40 Jahren. Zwar gebe es Parallelen, wie etwa den Vietnamkrieg damals und den heutigen Irakkrieg, "doch noch fehlt eine Integrationsfigur, ein Kopf, der die Forderungen der Immigranten charismatisch ein Wort verleiht".